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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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führte mich als Erstes zu den Nebengebäuden, die rechter Hand der Einfahrt lagen und wo, wie er sagte, die Eltern mit ihren Kindern lebten. Ich schluckte unmerklich und überlegte, dass manches Elend schon in Kindesalter beginnt. Auf der anderen Seite des Hauses waren Stallungen. »Hier findet die Pferdetherapie statt«, sagte der Junge und seine Augen füllten sich mit etwas, das ich als Stolz oder auch Freude interpretierte. Und dann sagte er: »Ich bin dafür zuständig, von der Anmeldung, wenn jemand sich dafür interessiert, bis hin zu der Arbeit mit den Pferden. Und hier findet das Vorgespräch statt.« Er deutete auf eine Art Anbau mit großer Panoramascheibe, die auf den Hof hinausging. Ich fragte mich, was zu Oma Charlottes Zeiten hier untergebracht gewesen war, Hühner und Kühe vielleicht.
    Wir entfernten uns in westlicher Richtung, gingen vorüberan einem Brunnen, dessen runde Becken mit Flechten bewachsen waren und aus dessen Mitte eine steinerne Säule ragte. Ich blieb stehen und überlegte. Das musste der Vogelbrunnen gewesen sein, ja, ich kannte ihn von dem Bildband, den ich für Frau Willunat besorgt hatte. Früher hatte ein Kind darauf gesessen, ein Säugling, dessen winzige Händchen den Wasserspeier umklammerten. Das war aber wahrscheinlich noch vor der Lebensborn-Zeit und die Kinderskulptur war sicher bei der großen Versteigerung nach dem Zusammenbruch der Lahusen-Dynastie unter den Hammer gekommen. Der Junge ging neben mir her, er sagte nichts. Er schien zu merken, dass ich mich ganz auf den Ort konzentrieren und lieber schweigen wollte. Wir gingen weiter und plötzlich erblickte ich den See, und über das, was ich jetzt sah, schob sich ein älteres Bild in Schwarz-Weiß, auf dem eine junge Frau vor der spiegelnden Fläche dieses Sees stand und lachte. Ich schloss für einen Moment die Augen. Hier, es musste hier gewesen sein, ich glaubte die Stelle, die Perspektive wiederzuerkennen, auch wenn die Bäume damals viel kleiner und spärlicher gewesen waren und der See jetzt einen Schilfgürtel trug. Der Junge hielt sich ein paar Meter entfernt und sah in eine andere Richtung. Vielleicht hatte er gemerkt, dass mir Tränen in die Augen stiegen. Eine Weile lang blieb ich einfach so stehen, an der Stelle, an der ich glaubte, dass Oma Charlotte vor über sechzig Jahren gestanden hatte. Schließlich reichte ich dem Jungen meinen Fotoapparat und bat ihn, genau hier ein Bild von mir zu machen. Ich schluckte. Aus irgendeinem Grund kam ich mir vor wie eine Vertriebene, die nach all den Jahren zurückkehrte. Ich fühlte mich schwach und ausgeliefert, zittrig. Und während der Junge auf den Auslöser drückte, fuhr der Wind mir durchs Haar und auf dem Bild, das ich später anschaute, sah es so aus, als wollte er mich davontragen.
    Wir näherten uns dem Haus von der Seite. Verschwiegen und geheimnisvoll ruhte es in der hereinbrechenden Dämmerung, und während wir einen Bogen darum schlugen und vonder anderen Seite die Terrasse ansteuerten, hatte ich das nächste Déjà-vu-Erlebnis, das natürlich kein echtes war, da ich das alles von den Fotos her kannte. Wie erstarrt ging ich die Stufen hoch und hielt das Profil der Steinfigur im Blick. Das war die Frau, die den Windhund streichelte, zweifellos. Vor dieser Figur hatte jemand die Aufnahme von Oma Charlotte gemacht. Und von einem kleinen Kind, das nicht meine Mutter gewesen war. Wieder bat ich den Jungen, ein Bild von mir zu machen, vor derselben Figur, aus derselben Perspektive.
    Und dann führte er mich von der Halle in den Keller hinunter. Ich erkannte den schwarz-weißen Fliesenboden, der noch der alte sein musste. An der Schwelle zur Küche blieb ich stehen. Sie allein war so groß wie unsere ganze Wohnung. Mein Blick glitt zu einem überdimensionalen Tisch im Vorraum, auf dem, ein wenig verloren, drei Toaster standen. Der Junge öffnete eine Tür und ein weiß gekacheltes Bad kam zum Vorschein. Die Marmorbäder, von denen die Autorin in ihrem Buch noch geschrieben hatte, gab es wohl nicht mehr. Wir durchschritten den Gang und durchquerten einen hallenartigen Raum mit einer Gewölbedecke.
    »Hier essen die von der anderen WG«, sagte der Junge und holte mich in die Gegenwart zurück.
    Über eine andere Treppe gingen wir in den oberen Stock und ich spürte auf einmal, wie mein Herz stärker zu schlagen begann. In den ersten Stock gelangten wir durch eine Art Vorraum, in dem ein Mann auf einem schwarzen Sofa saß und auf einem Handy herumdrückte. Er

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