Herbstvergessene
hat mich Mitte letzten Jahres kontaktiert in meiner Eigenschaft als Rechtsanwalt, der sich darauf spezialisiert hat, ehemaligen Lebensbornkindern bei der Suche nach ihrer wahren Identität zu helfen. Wie Sie wahrscheinlich wissen, ist Ihre Mutter 1944 in einem solchen Heim des Lebensborn e. V. , einer Unterorganisation der SS, auf die Welt gekommen. Ihre Mutter hat mich nun allerdings in einer etwas anders gearteten Angelegenheit aufgesucht. Sie bat mich, ihr dabei zu helfen, die Identität einer Reihe von Personen ausfindig zu machen, die nach ihrer Aussage
in einem Zusammenhang mit diesen Heimen standen, ohne mir jedoch genauere Angaben machen zu können oder zu wollen. Sie verstehen, dass ich einem derartigen Ansinnen nicht nachgeben konnte. Ich habe ihr daher geraten, einen Privatdetektiv zu beauftragen. Ob sie meinen Rat befolgt hat, entzieht sich meiner Kenntnis.
Ich bedaure, Ihnen nicht mehr mitteilen zu können, und verbleibe mit freundlichen Grüßen
PS: Meine Honorarnote werde ich Ihnen mit getrennter Post zukommen lassen.
Ich saß da und starrte auf die Zeilen. Ich konnte nicht glauben, was ich da las. War die Welt völlig verrückt geworden? Erst dieser inkompetente Verlag und jetzt das! Und dafür hatte dieses gottverdammte Arschloch Wochen gebraucht!
Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ich Ihnen nichts mitteilen kann
. Warum in aller Welt war er nicht in der Lage gewesen, mir das am Telefon zu sagen, kurz und knapp? Dann hätte ich mir Wochen des Wartens – und Hoffens – erspart! Ich knüllte das Schreiben zusammen und warf es gegen die Wand. Dann sah ich mir die restliche Post an, die üblichen Telefonrechnungen, zwei Briefe für Wolf, einen von der Royal Bank of Scotland, den ich gleich ins Altpapier fallen ließ, und – halt – einen Umschlag aus Wien, dessen Absender auf der Rückseite stand. Er war von Dr. Prohacek. Ich riss ihn auf:
Liebes Fräulein Sternberg,
ich habe versucht, Sie telefonisch zu erreichen, leider erfolglos. Nun greife ich zur Feder. Bei der Trauerfeier für Ihre Frau Mutter habe ich, wenn Sie sich erinnern mögen, versucht , mit Ihnen zu sprechen, doch leider hat sich die Gelegenheit nicht ergeben. Ich habe das dann als ein Zeichen gewertet, dass es nicht sein sollte. Nach Wochen des Hin und Her, in denen auch andere Dinge geschehen sind, bin ich nun doch zu der Überzeugung gelangt, dass ich mit Ihnen sprechen muss, persönlich
allerdings. Falls Sie wieder einmal in Wien sind, so melden Sie sich doch bitte bei mir. Es gibt Dinge, die Sie wissen sollten.
Ihr ergebenster
Dr. med . Oskar Prohacek
Wovon um alles in der Welt sprach dieser Mann?
Nach diesem nächtlichen Besuch auf meinem Zimmer sah ich Sartorius erst eine Woche später wieder. In diesen Tagen sei er, so hieß es, nach München in die Lebensbornzentrale gereist, wegen dringender Angelegenheiten. Zwar wunderte mich das, da der Vorstand doch gerade bei uns zu Besuch gewesen war, doch überwog meine Erleichterung, ihn nun eine Weile nicht sehen zu müssen. Und so wandte ich meine Aufmerksamkeit in diesen Tagen Hanna zu. Immer wieder grübelte ich über die Ereignisse bei der Namensweihe herum und immer öfter ertappte ich mich dabei, wie ich sie musterte und hinter ihren heiteren Zügen eine Antwort auf die Fragen suchte, die mich nun nicht mehr losließen: Wer war der Mann, mit dem sie sich heimlich traf? Und warum verschwieg sie mir die Wahrheit?
Es war am späten Nachmittag eines grauen Tages, ich hatte Paulchen gerade ins Kinderzimmer zurückgebracht und hatte Lust auf einen kleinen Gang durch den Park. Ich zog mir die derben Schuhe an, meinen Mantel und band mir ein Tuch um den Kopf. Auf der Freitreppe blieb ich einen Moment lang stehen und überlegte gerade, welche Richtung ich einschlagen sollte, als ich jemanden, eine Frau, aus dem Nebengebäude kommen sah. Die Haustür lag ein wenig verdeckt hinter ein paar Sträuchern und so erkannte ich erst einen Augenblick später, dass es Hanna war, die dort den Weg in Richtung See einschlug. Ich weiß noch, dass mich bei ihrem Anblick ein ganz seltsames Gefühl überkam. Vielleicht war es ja nur das Wissen um ihre Heimlichtuerei, für mich hatten ihre Körperhaltung und ihr Gang jedenfalls etwas Verstohlenes an sich. Und so zögerte ich nur einen kurzen Moment, bevor ich mich aufmachte und ihr folgte. Ein zaghafter Wind wehte und dämpftedas Geräusch meiner eiligen Schritte im Kies. Der Weg zum See verlief in Kurven und so
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