Herbstwald
merkte, dass die Erinnerung nicht kam.
Der Kriminalanalyst ließ den Computer hochfahren, der auf einem ovalen Schreibtisch neben der Fensterfront stand. Auf dem dunklen Klavierlack der Schreibtischplatte hätte man gut Fingerabdrücke von ihm nehmen können. Für einen Augenblick dachte er an die Putzfrau, die sie jeden Morgen aufs Neue entfernen musste – ein ewiger Kreislauf aus Polieren und Putzen.
Als er das gewohnte Hintergrundbild sah, startete er die Spezialanwendung Analyst’s Notebook .
Bisher gab es nur wenige Verbindungen zu dem roten Icon in der Mitte, das für das Opfer stand. Er zog ein weiteres Symbol auf den hellen Hintergrund und platzierte es neben eine stark vereinfachte Darstellung eines Mannes ohne Gesicht. Das grüne Symbol stand für den Jungen aus der Straßenbahn, den sie bisher für Catharina Aigners Freund gehalten hatten und dessen Namen sie noch nicht kannten. Er ersetzte das Wort ›Anonym‹, das standardmäßig für den Mann ohne Gesicht stand, durch ›Bruder?‹ und verknüpfte es mit der roten Figur in der Mitte. Das andere Symbol benannte er in ›Freund?‹ um und verband es mit dem gesichtslosen Mann direkt daneben.
Nachdem er über der Verknüpfung vermerkt hatte, dass es sich bei den beiden grünen Piktogrammen möglicherweise um ein und dieselbe Person handelte, sah das Diagramm aus wie eine kleine unscheinbare Spinnwebe. Er wusste aber, dass es im Laufe der Ermittlungen zu einem undurchschaubaren Dickicht aus Verbindungen anwachsen würde, die er dann nur noch durch starkes Zoomen überblicken konnte.
Eine Stunde später war er in der Fuggerei.
Er sah Landhäuser mit einem Pappbecher in der Hand vorbeilaufen, ohne dass sie ihn bemerkte.
Sie würde ihn wieder auf das Duzen ansprechen und er müsste ihr irgendwann eine Antwort geben. Davídsson wusste, dass es unvermeidbar war und dass er eine Entscheidung treffen musste, die er nicht ewig vor sich herschieben konnte. Eine Entscheidung zwischen Arbeitsklima und Professionalität.
Er ging wieder durch den Torbogen am Markusplätzle. Die feinen Kieselsteine knirschten unter den Ledersohlen. Er folgte dem Geräusch, das sich langsam an den ockerfarbenen Hauswänden entlanghangelte, vorbei an dem Haus, in dem einmal eine fröhliche Catharina Aigner gelebt hatte, bevor man ihr den Kopf kahl geschoren hatte.
Sein Blick wanderte automatisch zur ersten Etage, wo er eine Bewegung hinter der weißen, schnörkellosen Gardine zu bemerken glaubte. Vielleicht wartete Moser auf jemanden, der ihm etwas zu Essen gab oder neue Kleidung anzog.
Der Kriminalanalyst warf einen kurzen Blick auf das graue Schild mit der Aufschrift ›Weltkriegsbunker in der Fuggerei‹, bevor er durch eine Holztür nach unten ging. Von außen war kaum mehr von dem Bunker zu erkennen. Der Zugang war in einem Holzverschlag versteckt, der auch ein Gartenhäuschen sein konnte.
Die Luft wurde kühler, als er eine Schleuse passierte. Durch die weiß angestrichenen Wände konnte man den nackten Beton erkennen.
Davídsson dachte an den Schwerbelastungskörper in Berlin, der jetzt wieder in Ruhe vor sich hinverrotten konnte, ohne dass sich jemand darum kümmerte.
Er folgte der Ausschilderung, vorbei an Hörstationen und einem Film, den man durch Schlitze in einer künstlich gealterten Metallwand sehen konnte.
Davídsson blieb vor einem einzelnen Schaukasten stehen, in dem nur ein einziges Blatt Papier mit drei Unterschriften und einem Text mit markigen Worten ausgestellt worden war.
In ihrem Beschluss vom 1. März 1944 verpflichteten sich die Fugger zu einem unverzüglichen Wiederaufbau der bei einem Fliegerangriff schwer beschädigten Fuggerei.
›Durchdrungen von der Aufgabe, den Stifterwillen getreulich zu erfüllen, und im Bewusstsein der Verantwortung und der Verpflichtung …‹, las er, während er daran dachte, dass ihm Elisabeth Hübner erzählt hatte, dass der Bunker erst seit 2008 als Museum genutzt wurde. Zuvor war er über Jahre als Rumpelkammer beinahe in Vergessenheit geraten.
Davídsson überlegte, dass zehn Wohnungen der Fuggerei leer standen, weil kein Geld für eine Modernisierung bereitstand, aber dass offensichtlich genug Mittel für die Herrichtung des Bunkers zur Verfügung gestanden haben mussten.
Er konnte aber keinen Zusammenhang zwischen dem Fall und dem Bunker herstellen und verließ ihn wieder durch das Holztor.
7
Ó lafur Davídsson erkannte die Farbe der Akte wieder. Den Orangeton hatte er im Sozialamt auf beinahe jedem
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