Herbstwald
dem Bierdeckel ab und richtete es in der Mitte der Pappe aus.
Sie hatte recht.
Sie konnten noch mit dem Sachbearbeiter sprechen, wenn dieser nicht darüber eingeschnappt war, dass sie sich die Akte nicht von ihm, sondern über eine Reihe Vorgesetzter besorgt hatten.
Er sah sie an, sagte aber nichts.
»Ein bisschen komisch ist dieser Fall schon«, sagte Landhäuser nach einer Weile. »Eine junge Frau in dieser seltsamen Umgebung.«
Davídsson dachte nach.
»Bis jetzt haben wir zwei völlig unterschiedliche Bilder von Catharina Aigner«, sagte er schließlich.
Er wartete eine Reaktion von Landhäuser ab, die aber nicht kam.
»Da gibt es auf der einen Seite dieses Video und die Beschreibung von Maria Gruber. Hier ist das Opfer schrill und lebenslustig, und auf der anderen Seite wird Catharina Aigner von Moser als hilfsbereit beschrieben. Man soll ihr sogar angemerkt haben, dass sie aus einem guten Elternhaus stammte. Das wirkt auf mich ernsthaft und sogar ein wenig konservativ.«
»Die gute Erziehung war bei der Straßenbahnfahrt offensichtlich auf der Strecke geblieben«, gab Landhäuser zu bedenken, ohne sich dabei des Wortspiels bewusst zu werden.
»Ja.«
»Vielleicht sind es ja zwei Personen.« Lilian Landhäuser bestellte sich einen zweiten Cocktail. Sie waren mittlerweile die einzigen Gäste.
»Sie meinen, dass sie zwei Persönlichkeiten hatte?«
»Nein. Dass es zwei Personen waren, die sich ein Leben geteilt haben.«
»Mhm.« Mit diesem Gedanken konnte sich Ólafur Davídsson so schnell nicht anfreunden.
»Vielleicht war sie in diesen alten Mauern einfach nur anders. Vielleicht fühlte sie sich gefangen, an ihre Kindheit erinnert, aus der sie außerhalb der Fuggerei ausbrechen konnte, ohne diesen Teil ihrer Persönlichkeit wieder mit hineinzunehmen, wenn sie in die Fuggerei zurückkam.«
Davídsson dachte an die Nachtwächter, mit denen er sich noch unterhalten wollte. Hatten sie eine Verwandlung bemerkt, wenn Catharina Aigner nachts durch das Ochsentor kam? Wurde dann aus einer flippigen jungen Frau eine ernsthafte?
»Vielleicht war die Fuggerei ja ihre letzte Chance.« Landhäuser betrachtete den Cocktail, der ihr gerade gebracht worden war. Er war deutlich dunkler als sein Vorgänger. Vermutlich hatte der Barchef das Mischungsverhältnis geändert.
Sie nahm einen vorsichtigen Schluck aus dem Strohhalm. Davídsson beobachtete, wie sich ihr Gesicht langsam verzog und sie das Glas von sich weg über die dunkle Theke schob.
»Es ist zu viel Alkohol drin«, sagte er, nachdem sich ihre Gesichtszüge wieder normalisiert hatten.
»Der Typ hinter der Theke will mich wohl besoffen machen.« Sie lächelte, während sie mit den Fingern nach dem Barchef schnippte.
»Vielleicht war sie das.« Davídsson hatte ihren Gedanken durchdacht.
»Was? Wer war was?« Landhäuser erhielt ein neues Glas. Die Farbe war normal für eine gute Piña Colada.
»Die Fuggerei war vielleicht tatsächlich die letzte Chance für Catharina Aigner.«
»Die letzte Chance für eine 26-Jährige.« Sie nahm wieder einen Schluck, und dieses Mal schien sie ihr zu schmecken. »Jetzt, wo wir so eng zusammenarbeiten, könnten wir uns doch eigentlich duzen, oder?« Lilian Landhäuser sah ihn erwartungsvoll von der Seite an.
Davídsson spürte es, ohne ihren Blick zu erwidern. Er wusste, dass sie bereits mit fast allen Kollegen per Du war. Sie hatte sie ähnlich überrumpelt wie ihn.
Selbst mit Wittkampf duzte sie sich, obwohl ihm das offenbar immer wieder unangenehm war. Landhäuser war die Einzige aus dem Team, die ihren Chef mit Vornamen ansprach. Davídsson hatte bemerkt, dass Wittkampf es vermied, sie direkt anzusprechen. Er war nicht der Typ, den man duzte. Als Vorgesetzter behielt er gerne einen gewissen Abstand zu seinen Mitarbeitern, und das war auch gut so.
Ólafur Davídsson nahm den letzten Schluck aus dem Bierglas, um Zeit zu gewinnen.
In Island duzte man sich. Selbst wenn man die Premierministerin direkt vor dem Stjórnarráðið treffen würde, würde man sie mit dem Vornamen ansprechen. Und auch auf der FBI Academy in Quantico duzte jeder jeden.
Aber in Deutschland war das anders. Er hatte sich sehr mühsam daran gewöhnen müssen, dass die Du-Form hier Nähe und Vertraulichkeit ausdrückte. Beides wollte er Lilian Landhäuser gegenüber nicht signalisieren, obwohl er jetzt einen gewissen Druck dazu verspürte.
Bevor er sich endgültig dazu entscheiden konnte, was er ihr antwortete, klingelte sein Handy, das er
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