Herbstwald
eingrenzen. Das Video gibt dazu keine Anhaltspunkte. Die Werbung, die wir an den Wänden gesehen haben, hängt zum Teil heute noch dort. Oft werden bei der Straßenbahnwerbung lange Vertragslaufzeiten vereinbart. Manchmal sogar über die gesamte Lebensdauer der Straßenbahn. Meine Kollegen sind aber schon damit beschäftigt, die Anzeigen der letzten drei Jahre durchzugehen, aber das sind leider mehr, als man denken würde.«
»Ich habe Ihnen die Ermittlungsakte kopiert und das Labor hat Abzüge aus dem Video angefertigt. Ein Foto zeigt den Jungen und eines die ältere Dame, die sich über den Lärm beschwert hatte.«
Hofbauer hielt sich die Hand vor die Augen. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages ließen sein Gesicht glühen.
»Die Bilder mussten zum Teil sehr stark nachbearbeitet werden. Das Ergebnis ist das Maximum der technischen Möglichkeiten, auch wenn es leider auf den ersten Blick vielleicht nicht so aussieht.«
Der Kriminalhauptkommissar war gerade aufgestanden, um die dünnen Papierstapel mit den Fotos an die beiden Kollegen vom Bundeskriminalamt zu verteilen und um dabei der Sonne aus dem Weg zu gehen, als es an der Tür klopfte. Er schrak für einen winzigen Augenblick zusammen, der jedoch genügte, um zu einer Kettenreaktion bei den anderen zu führen. Der Ermittlungsdruck war riesig, und das sorgte für die Anspannung, die bei solchen Besprechungen allgegenwärtig war.
Wittkampf hatte am Morgen angerufen. Das Bundeskriminalamt gab ihnen zehn Wochen, um den Fall aufzuklären, und Hofbauer hatte keine zusätzlichen Leute bekommen. Der Fall musste von vier Personen ohne weitere Hilfe gelöst werden. Davídsson wusste, dass immer weniger Geld zur Verfügung stand, um einen Mord aufzuklären. DNA-Analyse, Spurensicherung und Obduktion kosteten, wie ihr eigener Einsatz, der dem Freistaat Bayern wieder in Rechnung gestellt werden würde, ob sie den Mörder fanden oder nicht.
Elisabeth Hübner öffnete zaghaft die Tür, als hätte sie geahnt, was gerade im Innern des Besprechungsraums geschehen war.
»Tut mir leid, wenn ich störe. Ich wollte nur sichergehen, dass ich Sie alle gemeinsam antreffe.« Sie blieb auf der Schwelle stehen. Die weiße Türzarge wirkte jetzt wie ein Bilderrahmen für ein bewegliches Kunstwerk. »Wir haben an den nächsten beiden Tagen eine Veranstaltung hier in der Administration und ich benötige dazu leider diesen Raum. Ist es möglich, dass Sie an einem anderen Ort tagen?«
Davídsson sah zuerst Schedl und dann Hofbauer an.
»Wir können uns auch im Präsidium treffen. Das ist kein Problem«, sagte Schedl.
Elisabeth Hübner war erleichtert. »Das ist nett. Dann will ich Sie gar nicht weiter stören.«
»Einen Moment bitte, Frau Hübner. Wir haben hier zwei Fotografien. Könnten Sie sich die beiden Personen bitte einmal ansehen?« Davídsson stand auf und nahm die beiden Aufnahmen aus Hofbauers Hand, um sie anschließend Elisabeth Hübner zu zeigen. »Kennen Sie eine der beiden Personen?«
»Moment, dafür brauche ich meine Brille.«
Ólafur Davídsson schaltete den goldenen Kronleuchter ein. Als er bemerkte, dass das Licht nicht ausreichen würde, ging er zu dem Dürer-Bild und bediente den Fußregler einer Stehlampe, die nun ihr grelles Licht gegen die weiße Decke warf.
Zwei Minuten später kehrte Elisabeth Hübner mit einer goldenen Lesebrille zurück, die sie sich erst aufsetzte, nachdem sie das Foto von dem Jungen in Händen hielt.
Das kriminaltechnische Labor hatte die Spiegelungen der Scheibe extrahieren können und vor einen hellen Hintergrund kopiert. Von der Straßenbahn war nichts mehr zu sehen. Die Verzerrungen des Videos waren retuschiert worden. Herausgekommen war eine Profilaufnahme eines jungen Mannes, dessen Gesicht zum Teil mit einem Camcorder verdeckt war. Das fehlende Stück war offensichtlich mithilfe eines Computers ergänzt worden und sah jetzt aus wie eine stark beschädigte antike Vase, die man irgendwo aus der Erde geholt und mit Gipsfragmenten ergänzt hatte. Der Kontrast war so verstärkt worden, dass die Gesichtszüge deutlich erkennbar waren und man sich eine Vorstellung von dem Jungen machen konnte.
Elisabeth Hübner betrachtete eingehend das lachende Gesicht auf dem Foto. Der Junge mochte im Alter von Catharina Aigner sein, vielleicht ein paar Jahre jünger oder älter. Er hatte wildes, dunkles Haar und dunkle Augen auf der Schwarz-Weiß-Aufnahme.
»Tut mir leid, aber ich kenne den Jungen nicht.« Sie setzte die Brille sofort wieder ab
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