Herbstwald
Messpriester nahm die Bibel vom Altar und las aus dem Alten Testament, während Davídsson das Altarblatt des venezianischen Malers Jacopo Palma il Giovane hinter dem Geistlichen betrachtete. Es zeigte die Kreuzigung Christi.
Die Kirchenbesucher antworteten dem Pfarrer jetzt mit »Dank sei Gott« auf die Antwortpsalme, die er als Kehrverse vortrug.
Davídsson dachte an die schlichte evangelisch-lutherische Hallgrímskirkja in Reykjavík, die er mit Óðinn besucht hatte, als er den kleinen Flügelaltar an der Ostwand studierte. In der Predella konnte er Markus Fugger, einen der Stifter der Fuggerei, seine Frau Sibylla von Eberstein und ihre Söhne und Töchter verewigt erkennen.
Auf den Flügeln des Altars befanden sich Flachreliefs, rechts eine Darstellung der heiligen Anna, links ein Bild des Erzengels Michael und außen dekorative Malereien mit den Monogrammen von Christus und Maria. Im Schrein zeigte der Altar unter einem Bogen aus Kleeblättern die Marienkrönung als Freiplastik.
Er hatte den Fuggerei-Führer aus seinem Mantel gezogen, in dem stand, dass der Flügelaltar um 1570 geschaffen worden war und zunächst für die Hauskapelle Sankt Sebastian in den Fuggerhäusern an der Maximilianstraße bestimmt war, bevor er in die Markuskirche gebracht wurde.
Pfarrer Geisler war beim Credo angelangt: »Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen; den Schöpfer des Himmels und der Erde …«
Ólafur Davídsson versuchte von seinem Platz aus die Inschrift unter der Schutzmantelmadonna vom Bamberger Künstler Hans Leitherer zu lesen, unter deren Mantel die Fuggerei und das Wappen der Fugger Schutz fanden, aber es gelang ihm nicht.
Die Messe endete mit Fürbitten.
Davídsson wartete, bis sich die kleine Kirche geleert hatte, bevor er aufstand, um die Gedenktafel für den Luftangriff auf die Fuggerei zu lesen.
»Sie interessieren sich sehr für diese Kirche«, sagte der Messpriester, der wieder in das Gotteshaus zurückgekehrt war, nachdem er die Gläubigen an der Tür in die Nacht verabschiedet hatte.
Er nickte der Inschrift unter der Madonnenfigur zu. »Vor diesem Luftangriff gab es hier Stuckgirlanden im Stil des Spätbarocks an der Decke und eine blaugelbe baldachinartige Altarumrahmung. Heute sind die Wände weiß und der meiste Kirchenschmuck ist zerstört.«
»Ja, schade.« Davídsson setzte sich auf die Bank direkt neben der Gedenktafel.
»Trotzdem entspricht diese Ausstattung der ursprünglichen Kirche aus dem 16. Jahrhundert.« Der Pfarrer setzte sich neben ihn.
Ólafur Davídsson konnte jetzt fein verästelte bläuliche Adern unter den Wangen des Messpriesters erkennen. Der fromme Gesichtsausdruck und die glatte Haut machten es dem Kriminalanalysten schwer, das wirkliche Alter des Mannes zu schätzen. Er sieht vermutlich jünger aus, als er tatsächlich ist, dachte Davídsson.
»Ich nehme an, Sie haben den Wahlspruch von Jakob Fugger am südlichen Volutengiebel gelesen.«
»Ja. ›Nütze die Zeit‹.« Davídsson war sich nicht ganz sicher, ob das ein Hinweis für ihn sein sollte oder ob der Pfarrer den Spruch nur als Teil seiner Führung durch die Kirche verstand.
»Schon damals sollte alles ein bisschen hektischer werden, als es war«, sagte der Messpriester schließlich und es wirkte, als bedaure er diese Entwicklung.
»Ich habe ein paar Fragen an Sie.«
»Sie sind Polizist.«
Davídsson lächelte. »Ich hoffe, man sieht das nicht zu deutlich.«
»Ich habe es an der Art erkannt, wie sie sich hier umgesehen haben. Sie erforschen Ihre Umgebung. Das machen leider die wenigsten.«
»Ich bin wegen Catharina Aigner hier.«
»Auch das habe ich mir schon gedacht. Wollen Sie mir in die Sakristei folgen, um mir dort die Fragen zu stellen, während ich ein wenig aufräumen kann?«
Sie waren das kurze Stück an der Kirche entlang durch die Dunkelheit geg angen. In Hausnum mer 35 befanden sich die Sakristei und die Wohnung des Geistlichen.
»Früher war in diesem Haus eine Schule untergebracht. Der Mesner hat sie damals geleitet, aber das ist lange her. Heute gibt es kaum noch Kinder in der Fuggerei, und die, die wir haben, gehen draußen zur Schule.«
Davídsson spürte, dass der Messpriester das Unweigerliche mit Worten vor sich herschob. Er weiß, dass er irgendwann über den Tod von Catharina Aigner sprechen muss, aber er versucht dem trotzdem aus dem Weg zu gehen, dachte der Kriminalanalyst. Er hatte dieses Verhalten schon oft bei Zeugen beobachtet.
»Was ist eigentlich ein
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