Herbstwald
Messpriester«, fragte Ólafur Davídsson, um ihm den Einstieg in das Gespräch zu erleichtern. »Ich habe diesen Titel zum ersten Mal hier in der Fuggerei gehört.«
Der Geistliche lächelte und die Haut auf den Wangen spannte noch mehr. »Es ist aber keine Eigenart der Fuggerei. Ein Messpriester ist so etwas wie ein Filialleiter. Der Begriff wird heute jedoch kaum noch verwendet, aber die Pfarrei gehört eigentlich zu Sankt Maximilian, und da passt die Bezeichnung am besten.«
Der Pfarrer nahm ein paar weiße Kerzen aus einem Schrank und legte sie sich auf einem Tisch neben der Tür bereit.
»Das mit Frau Aigner ist eine schlimme Sache«, sagte er schließlich.
»Sie haben sie in ihrer Wohnung gefunden.«
»Herr Moser hat mich angerufen. Er meinte, dass etwas nicht stimmen würde. Normalerweise würde ich da noch nicht loslaufen, aber Herr Moser ist ein äußerst zuverlässiger und korrekter Mann. Wenn er sich meldet, ist es etwas Ernstes.«
»Ich verstehe.« Davídsson hatte sich neben zwei Prozessionskreuze gestellt.
»Es war ein schrecklicher Anblick, das junge Mädchen mit dieser Plastiktüte über dem Kopf aufzufinden. Ich werde diesen Anblick wohl nie vergessen können.« Der Geistliche zog sich das Rochett über den Kopf und stand anschließend nur mit der Soutane bekleidet in der Sakristei.
»Kannten Sie Catharina Aigner von Ihrer geistlichen Tätigkeit?«
»Sie meinen, ob sie regelmäßig die Messen besucht hat?«
»Ja, zum Beispiel.«
»Nun, wir feiern hier dienstags und donnerstags abends die heilige Messe, und natürlich am Sonntagmorgen. Ich könnte jetzt aber nicht behaupten, dass ich Frau Aigner an jedem dieser Tage in der Kirche gesehen hätte.«
»Aber sie war einige Male in der Kirche?«
»Ja, natürlich. Sie hat bestimmt auch ihre Gebete gesprochen. Ich glaube schon, dass Frau Aigner den Glauben hatte.«
»Hat Sie mit Ihnen über ihre Probleme gesprochen?«
Der Messpriester ordnete das Rochett und hängte es schließlich in einen großen Wandschrank zu den anderen Gewändern.
»Über die Beichte darf ich nicht sprechen. Auch ihr tragischer Tod ändert nichts an dem Beichtgeheimnis, an das ich gebunden bin.«
Davídsson hatte keinen Beichtstuhl in der Kirche gesehen, und trotzdem hatte er mit einer ähnlichen Antwort gerechnet. Er wusste, wie schwierig es war, Geistliche als Zeugen zu befragen.
»Ich hatte eher an Ihren gut gemeinten Rat zu einem bestimmten Thema gedacht als an die Beichte.«
»Zu welchem Thema?«
»Das frage ich Sie.«
»Nun ja, sie hat mit mir über ihre Einsamkeit gesprochen. Sie sehnte sich wohl nach einer Familie.«
»Hatte sie denn keine?«
Der Pfarrer sah Davídsson überrascht an. »Sie wissen nichts über ihre Familie?«
»Nein.«
»Mhm. Sie hat mit mir nie über ihre eigene Familie gesprochen, aber sie hat mir gesagt, dass sie einsam ist und dass sie sich ihre Familie zurückwünschen würde.«
»Das klingt, als hätte sie ihre Familie verloren.«
»Ja, vielleicht. Ich hatte damals aus irgendeinem Grund an einen Autounfall gedacht. Manchmal hat man ja so ein Bild im Kopf, wenn man etwas hört.«
Davídsson nickte. Das war eine Möglichkeit, die er auch schon in Betracht gezogen hatte. Ein Unfall.
»Davon hat sie aber nie etwas gesagt?«
»Nein. Wie gesagt – es war nur so eine Idee von mir. Sie schien traurig über einen Verlust gewesen zu sein, als sie in die Fuggerei einzog.«
»Haben Sie sich dafür eingesetzt, dass sie in die Fuggerei einziehen konnte?«
»Der Messpriester wird dazu nicht gefragt. Das ist alleine die Entscheidung der Senioratsvorsitzenden.«
»Hat sie mal über einen Freund gesprochen?«
»Mit mir nicht.«
Davídsson holte das Foto aus der Tasche und hielt es dem Mann hin. »Haben Sie diesen jungen Mann mal bei ihr gesehen?«
Der Priester schüttelte den Kopf, während er den Papierabzug festhielt.
»Nein. Tut mir leid.«
»Haben Sie ihn vielleicht in der Fuggerei gesehen?«
Der Mann schüttelte wieder den Kopf. »Ich wohne zwar hier in der Fuggerei, aber ich achte schon lange nicht mehr auf die vielen Besucher. Das sind jedes Jahr einfach zu viele, verstehen Sie?«
»Ja.«
»Vielleicht hat sie über dieses Thema lieber mit einer Frau gesprochen.«
Davídsson steckte das Foto wieder in die Innentasche seines Mantels zurück. Er dachte daran, was Moser dazu gesagt hatte. Catharina Aigner fühlte sich bei Männern verletzlich, angreifbar.
Er hatte Moser nicht in der Kirche gesehen, aber seine Einschätzung zu
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