Herbstwald
in welchem Jahr das war?« Davídsson ließ den Film weiterlaufen. Vielleicht halfen die Bilder ihrem Gedächtnis auf die Sprünge.
»Wie lange hat sie jetzt in der Fuggerei gewohnt?«
»Etwa drei Jahre.«
»Dann ist es vielleicht vier oder sogar fünf Jahre her. Ich weiß es nicht mehr genau.« Sie legte ihre Hände übereinander. »In meinem Alter erinnert man sich nicht mehr so leicht, und manchmal gehen die Gedanken wild durcheinander.«
Davídsson hatte versucht, ihr Alter zu schätzen. Ihr Gesicht hatte kaum Falten. Die Haut war glatt, spannte aber nicht. Ihre Hände verrieten aber, dass sie schon über siebzig sein musste. Es waren Hände, die harte Arbeit verrichtet hatten und die rau und grob geworden waren durch den Umgang mit scharfem Waschmittel und das Scheuern von schmutziger Wäsche.
»Haben Sie Catharina Aigner mal mit einem anderen Jungen gesehen?«
»Sie hat manchmal mit dem Jungen von der Schreinerei gesprochen. Ich glaube, er wollte was von ihr. Sie war ja nicht so, wie es auf dem Video aussieht. Sie war hübsch und nicht so aufgedreht.«
»Es gibt hier eine Schreinerei, in der der Junge arbeitet?« Davídsson ließ sich wieder auf den Sessel sinken, blieb aber auf der Kante sitzen.
»Wir können da kleinere Schreinerarbeiten machen lassen. Nach meinem Umzug hat mir der Schreiner sogar einen Schuhschrank gebaut, nachdem die Administration das genehmigt hat. Es gibt auch einen Maurer, der für uns Ausbesserungsarbeiten macht, wenn zum Beispiel etwas an der Mauer im Garten ist oder so.«
»Sie waren auch vor vier Tagen hier und hatten Dienst.« Davídsson ließ das Band zurückspulen. Emma Künzler war nichts mehr eingefallen.
»Ja, die ganze Woche seit der Nacht von Sonntag auf Montag.«
»Und Sie haben nichts gehört oder gesehen?«
Sie schwieg, als hätte sie seine Frage nicht gehört.
»Haben Sie jemanden über die Kamera gesehen oder zumindest einen Schatten?«
»Ich habe mich das auch schon gefragt.« Ihre Stimme hatte sich verändert. Sie achtete jetzt nicht mehr auf ihren Dialekt und strich ein paarmal verlegen über die Plastiktischdecke.
Sie fühlte sich mitschuldig, weil sie nichts wusste, obwohl sie als Nachtwächterin für die ganze Fuggerei verantwortlich war, während jemand aus der Siedlung sterben musste.
»Ich habe leider ferngesehen. Da kam ein Krimi im Bayerischen Fernsehen und es gab kaum jemanden, der hinaus oder herein wollte. Selbst Frau Winkler kam nicht von ihrer Familie, weil sie mit Kopfschmerzen zu Hause geblieben war. Es war eine ruhige Nacht – fast wie heute.«
Davídsson wusste nicht, was er sagen sollte, aber er fand es unpassend, von einer ruhigen Nacht zu sprechen.
»Ich höre am Ende des Monats auf«, sagte sie nach einer Weile des Schweigens mit Tränen in den Augen.
11
D er metallische Geruch an seinen Fingern war längst dem Duft der Hotelseife gewichen, aber der Gedanke war geblieben.
Das Frühstück hatte er abgesagt. Er hatte schlecht geschlafen. Zu viele Gedanken waren in seinem Kopf unterwegs gewesen. Sie schienen alle in der Nacht unkontrolliert aneinandergeprallt zu sein. Er musste sie sortieren und sich Notizen machen, bevor er sie teilweise vergaß.
Jetzt saß er mit dem Instantkaffee auf dem Bett und verzog bei jedem Schluck das Gesicht. Der Kaffee schmeckte scheußlich. Zu Hause trank er jeden Morgen einen Espresso aus einem Kaffeevollautomaten, und in seinem Büro machte er sich den Kaffee mit einer Macchinetta.
Auf dem Bett war die gesamte Akte ausgebreitet. Er hatte sich die Bilder angesehen, die Protokolle überflogen und seinen Ermittlungsweg auf einem Faltblatt der Fuggerei nachverfolgt. Der 3-D-Plan war falsch. Das Gebäude mit der Schreinerei stimmte nicht, genau wie das Gebäude gegenüber. Der runde Torbogen, der die beiden Gebäude miteinander verband, fehlte ebenfalls. Es war ein bisschen wie bei einer Fehlerbildsuche.
Finde die acht Fehler auf dem Bild und gewinne eine Reise nach Südfrankreich, dachte er.
Von dem Eingang in der Gartengasse war nirgends etwas zu lesen. Er würde das nachprüfen, bevor er mit dem Jungen aus der Schreinerei sprechen würde.
Vielleicht war die Tür eine Erklärung für die bohrende Frage, die er plötzlich wie eine Eingebung auf der Brücke über dem Sparrenlech vor Augen gehabt hatte.
Ólafur Davídsson hatte ausgiebig geduscht und war dann auf seinen Stammparkplatz auf dem Markusplätzle gefahren.
Die Kassiererin hatte ihm beim Vorbeifahren freundlich zugenickt und er
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