Herbstwald
Minuten, dachte Davídsson.
»Das große Eingangstor und die Tür in der Gartengasse schließe ich auf, bevor ich um fünf Uhr nach Hause gehe. Die Schauwohnung, das Museum und der Bunker werden dann später von der Kassiererin aufgeschlossen, die auch hier in der Fuggerei wohnt.«
»Ja, und wie gehen Sie damit um, dass dauernd Touristen an Ihrem Fenster vorbeilaufen?«
Emma Künzler lächelte wieder. »Mit der Zeit gewöhnt man sich daran, dass man in einer Art lebendigem Freilichtmuseum wohnt. Eigentlich ist es trotzdem ein kleines beschauliches Dorf in der Stadt mit eigener Stadtmauer und eigenen Straßennamen.«
Davídsson dachte an Catharina Aigner, die in dieser behüteten Umgebung mit Drogen vollgepumpt und anschließend ermordet worden war. Sie wussten immer noch nicht, was der kahl geschorene Kopf bedeutete. Wofür dieses Ritual stand.
»Manche Besucher sind schon ein bisschen dreist. Ein paar Österreicher sind mal in meine Wohnung eingedrungen, als ich einmal vergessen hatte, die Tür zu schließen. Eigentlich wollte ich nur einen Besen holen, um vor dem Haus sauber zu machen. Alle zwei Wochen wechselt man sich damit mit seinem Nachbarn ab. Schließlich gibt es hier ja keine Straßenreinigung oder so etwas. Wenn man wie ich im Erdgeschoss wohnt, kommt es auch vor, dass jemand von den Touristen durch die Fenster guckt, während man sich gerade im Schlafzimmer umzieht. Deshalb haben die meisten Bewohner blickdichte Vorhänge vor den Fenstern. Manche schließen auch einfach tagsüber die Klappläden und machen sie erst abends auf, wenn die meisten Besucher wieder weg sind.«
Ólafur Davídsson hatte offenbar einen wunden Punkt getroffen.
»Aber am meisten nerven mich die blöden Aussagen zu den billigen Mieten. Die Besucher glauben ja immer, mit den 88 Cent sei alles getan. Die wenigsten wissen, dass der Pfarrer auch 88 Cent bekommt oder dass wir auch noch Heizkosten und den Strom zu den Nebenkosten zahlen müssen. So billig, wie alle immer glauben, ist es hier auch wieder nicht.«
»Ja. Ich verstehe.« Ólafur Davídsson erhob sich von dem Fernsehsessel, der ihm im Laufe des Gespräches immer unbequemer geworden war.
Die Rückenlehne hatte sich mittlerweile so aufgeheizt, dass sein weißes Hemd am Rücken völlig nassgeschwitzt war und an seinem Sakko klebte.
Eigentlich wollte er an die frische Luft, aber er hatte noch nicht alles erfahren, was er wissen wollte.
Das Wichtigste lag noch vor ihm.
Er holte das Foto von dem Jungen aus der Innentasche seines Mantels, den er bereits auf das Bett gelegt hatte, um etwas weniger Hitze am Körper zu verspüren.
Emma Künzler schien die Hitze nicht zu stören.
Sie betrachtete das Foto, das er ihr hinhielt. Er suchte eine Reaktion in ihren Augen, bemerkte aber nichts.
»Wer ist das?«, fragte sie schließlich.
»Das wissen wir nicht. Ich hatte gehofft, dass sie mir das sagen können. Der Junge war auf einem Video, das in einer Straßenbahn aufgenommen worden ist und auf dem auch Sie zu sehen sind.«
Sie sah das Bild noch einmal an, schüttelte dann aber den Kopf.
»Ich erkenne den Jungen nicht. Diese komische Knetmasse an seinem Kopf entstellt das Gesicht so furchtbar, dass ich ihn mir nicht richtig vorstellen kann.«
Der Kriminalanalyst kannte das. Er hatte es schon Dutzende Male erlebt. Die Menschen hatten kaum noch Fantasie.
Er holte die Videokassette aus der anderen Manteltasche und schob sie in den Videorekorder unter dem Fernseher. Vielleicht ist genau dieses Gerät für die Fantasielosigkeit der Menschen verantwortlich, dachte er.
Davídsson schaltete den Ton ab, bevor der Film startete. Er wollte nicht, dass Emma Künzler hörte, was der unbekannte Junge über sie sagte. Catharina Aigner turnte stumm über den Bildschirm. Ihr Lachen wirkte jetzt grotesk und unwirklich.
Die stumme Tote erfreut sich am Leben, dachte er.
Emma Künzler schien sich plötzlich wieder daran zu erinnern.
»Das ist aber schon lange her.«
»Können Sie sich an den Jungen erinnern, der das Video aufgenommen hat? Der Junge, der bei ihr war?«
Sie nickte.
»Haben Sie ihn davor oder danach noch einmal gesehen?«
Sie schien zu überlegen. »Ich glaube nicht.«
»Sie wissen also immer noch nicht, wer er ist?«
»Das ist schon lange her«, wiederholte sie.
»Wann war das?«
»Sie hat damals noch nicht in der Fuggerei gewohnt. Ich hatte das alles ganz vergessen. Später, als sie mir beim Umzug geholfen hat, wusste ich schon nichts mehr davon.«
»Wissen Sie noch,
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