Herbstwald
Erdlingen zum Greifen nahe kommen konnten. Wenn es den Menschen gelingt, sie zu fassen, sind sie doch nur feuchte Luft, wie die, die jetzt durch das offene Beifahrerfenster strömt, dachte er.
Neben ihm flogen frisch gepflügte Äcker vorbei. Die Feuchtigkeit aus der schwarzen, glänzenden Erde schwebte als Nebel über dem Boden. Vereinzelt waren schemenhaft Bäume zu erkennen, die längst ihre bunten Blätter verloren hatten.
Der Winter stand unmittelbar bevor.
Selbst die Häuser verloren ihre Farbe unter dem herbstlichen Himmel und die Natur verschmolz am Horizont mit dem grauen Dunst der Stadt.
Alles war unendlich – unendlich weit.
Es war wie Urlaub für die Augen. Ein Urlaub von zehn Minuten.
Plötzlich wurde er in einer kleinen Ortschaft geblitzt, in die er viel zu schnell hineingefahren war, wobei er völlig vergessen hatte, die Geschwindigkeit auf die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit zu drosseln.
Davídsson fluchte laut vor sich hin. Die isländischen Schimpfwörter prallten gegen die Windschutzscheibe und wurden ihm wieder ins Gesicht zurückgeschleudert.
Er hatte Zeit und war doch viel zu schnell.
Für eine Sekunde kam die Erinnerung an das Disziplinarverfahren zurück. Die Innenrevision hatte ihm eine aus ihrer Sicht grundlose Blaulichtfahrt vorgeworfen, für die sein Chef schließlich die Verantwortung übernommen hatte.
Er versuchte die Fahrt durch den Naturpark trotzdem zu genießen, aber der Ärger über den Blitzer ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Er würde den Führerschein für mindestens einen Monat abgeben müssen. Auch für die Beamten des Bundeskriminalamtes gab es kein Pardon von den Kollegen vom Ordnungsamt. Vielleicht hatte er Glück und das französische Kennzeichen konnte die Zustellung des Strafzettels verhindern. Noch hatte die Europäische Union nicht alle Verfahren miteinander verknüpfen können.
Als er den Wagen verließ, spürte er eine raue Kälte. Es hatte begonnen zu regnen.
Das Forstamt sah aus wie ein kleines Jagdschloss. Die kahlen Bäume dahinter wirkten wie böse Geister, die jetzt unbeweglich im Regen standen und der Natur trotzten. Er sah Erker und einen Turm mit einer Kupferkuppel. Die blau-gelben Klappläden vor den Fenstern waren alle geöffnet und an der steilen Giebelwand hing ein überdimensionales Hirschgeweih.
Der Kriminalanalyst wurde bereits erwartet. Der missmutige Schreiner hatte ganze Arbeit geleistet. Davídsson hatte ihm das nicht zugetraut, obwohl er in der Schreinerei ein verstaubtes Telefon auf einem Tisch stehen gesehen hatte, das offenbar seit Jahren nicht mehr angerührt worden war. Eine Mitarbeiterin führte ihn in das oberste Stockwerk und dort in das Büro des Forstdirektors Helmut Rieger.
Der Mann wirkte sympathisch. Er war einen guten Kopf kleiner als Davídsson und trug einen Miesbacher Trachtenanzug. Die graue Joppe spannte um einen silbernen Knopf. Ein gleichfarbiger Velourshut lag auf einem unordentlichen Schreibtisch, der die Ausmaße eines Tapeziertisches haben mochte.
»Sie wollen unseren Auszubildenden Rico sprechen?« Rieger streckte ihm die Hand hin, und nachdem er sie geschüttelt hatte, deutete der Forstdirektor auf einen wuchtigen Holzstuhl mit einer hohen Lehne, während er sich selbst auf einen Bürostuhl setzte.
Davídsson setzte sich unter einen ausladenden Geweihkronleuchter. Das Licht war warm und dämmrig und passte zu einem Schloss.
»Ja, wenn das geht.«
»Ich habe bereits veranlasst, dass er aus dem Wald geholt wird. Hat er etwas angestellt?«
»Nein, nein. Ich habe nur ein paar Fragen an ihn.«
»Sie sind doch von der Polizei?« Rieger schaffte sich Platz auf dem Schreibtisch. Er sortierte ein benutztes Taschentuch aus den Papieren und warf es in einen Mülleimer. Dann stellte er einen Porzellanteller mit braunen Apfelschalen und einem Messer neben das Telefon. Der Teller hatte ein Etui mit Visitenkarten verdeckt, das der Forstdirektor offensichtlich gesucht hatte. Er entnahm eine Karte und übergab sie Davídsson.
»Wir arbeiten grundsätzlich mit der Polizei zusammen. Rufen Sie mich an, wenn Sie noch Fragen haben, die Ihnen jetzt vielleicht nicht einfallen.«
Ólafur Davídsson überlegte, welche sinnvollen Fragen er stellen konnte. Er hatte nicht geplant, mit dem Forstdirektor zu sprechen, und er wusste auch nicht, was die Forstwirtschaft der Fuggerei mit dem Fall zu tun haben könnte, aber er wollte auch nicht unhöflich sein.
»Die Fuggerei finanziert sich über Ihre Forstwirtschaft?«,
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