Herbstwald
und ansonsten nur mit Romanheften vollgestellt war.
»Ich bete meine drei täglichen Gebete für die Fugger«, sagte Emma Künzler, die seinen Blicken gefolgt war. »Aber ich renne nicht bei jeder Messe in die Kirche. Dazu fehlt mir einfach die Kraft.«
Ólafur Davídsson beobachtete auf dem schwarz-weißen Fernsehbild, wie sich eine Person der Kamera näherte. Die schwachen Konturen der Mattscheibe zeigten nur die Umrisse eines dunklen Regenmantels, aber Emma Künzler schien die Person dennoch zu erkennen.
»Das ist Frau Winkler. Die kommt jeden Abend um die gleiche Zeit von ihren Enkeln nach Hause. Ihre Tochter und der Ehemann sind beide berufstätig, und da muss die Oma auf die Kinder aufpassen.«
Sie stand auf und öffnete das kleine Fenster über dem Bett, nachdem die Frau die Nachtglocke gedrückt hatte.
»Gibt es ein Buch, in das die Personen eingetragen werden, die während der Nachtwache in die Fuggerei wollen?« Davídsson hatte einen Schnellhefter auf dem Tisch liegen gesehen, wusste aber nicht, was auf den Papieren stand.
»Ich habe hier nur eine Liste mit allen Bewohnern liegen, falls ich jemanden tatsächlich mal nicht kennen würde, aber eigentlich sind es immer wieder die gleichen Personen, die rein oder raus wollen.«
Die Nachtwächterin grüßte die Fuggerei-Bewohnerin und erkundigte sich nach ihrem Wohlbefinden. Davídsson sah, wie die Frau ein Fünfzig-Cent-Stück durch das Fenster streckte. Für einen kurzen Moment konnte er den dunklen Regenmantel sehen. Er war dunkelrot. Nach einer halben Minute war alles vorbei und Emma Künzler hatte das Geldstück auf die Tischdecke gelegt und sich zurück auf das Bett gesetzt.
»Wir müssen nicht mit der Verwaltung abrechnen, weil wir das Geld behalten dürfen. Deshalb gibt es auch kein Buch oder so etwas, wo wir die Beträge eintragen müssten.«
»Zeichnet die Kamera etwas auf?« Der Videorekorder unter dem Fernsehgerät war ausgeschaltet, aber es gab vielleicht einen Ort, an dem es Aufzeichnungen gab.
»Nein. Die Kamera gibt es nur, damit wir die Personen sehen können, bevor wir den Türöffner drücken. Manchmal lässt sich die Stimme über die Sprechanlage nicht richtig erkennen.«
»Wie viele Bewohner teilen sich die Arbeit hier?«
»Zurzeit gibt es nur noch vier Nachtwächter in der Fuggerei. Drei Frauen und ein Mann. Früher waren es einmal mehr.«
»Und wie wechseln Sie sich bei der Arbeit ab?«
»Jede Schicht geht eine Woche. Ich bin also alle vier Wochen an der Reihe, es sei denn, jemand von meinen Kolleginnen ist krank oder hat Urlaub. In der Nacht von Samstag auf Sonntag ist die letzte Schicht. Dann mache ich noch die Wachstube sauber und ziehe das Bett ab, damit meine Nachfolgerin wieder alles sauber vorfindet.«
Davídssons Blick fiel auf die verschiedenen Bodenbeläge. Er hatte sie bemerkt, als er die Wachstube betreten hatte. Jetzt sah er auf Holzdielen, die sich mit Linoleum und Laminatboden abwechselten. Es war ein einziger Flickenteppich, über den Emma Künzler am Wochenende wischte.
»Können Sie dann nachts überhaupt schlafen?« Er fragte sich, ob das der Grund dafür war, dass es immer weniger Freiwillige gab, die diese Arbeit machen wollten.
»Manchmal sehe ich die ganze Nacht über fern oder stricke an einem Pullover für meinen Enkel. Es gibt Nächte, da ist fast nichts los, und andere, wo ich gar nicht zur Ruhe komme. Gestern zum Beispiel kamen zwei vor Mitternacht und sechs danach. Die Letzten wollen dann meistens morgens schon um fünf Uhr wieder raus, bevor ich die Tür in der Gartengasse aufschließe.«
»Es gibt eine Tür in der Gartengasse?« Davídsson spürte die Wärme der Heizung in seinem Rücken. Langsam begann sie unangenehm für ihn zu werden.
»Ja, manche haben einen Schlüssel, um nicht um die ganze Fuggerei laufen zu müssen, wenn sie in die Stadt wollen.«
»Und nachts ist die Tür aber so verschlossen, dass niemand durchgehen kann?«
»Ja, bevor ich hier anfange zu arbeiten, schließe ich vorne das große Tor und die Tür in der Gartengasse mit einem zweiten Schloss ab. Es kommt also nachts niemand an den Nachtwächtern vorbei.« Sie lächelte.
Die Nachtglocke wurde schon wieder geläutet. Dieses Mal hatte keiner von ihnen bemerkt, dass sich jemand dem Ochsentor genähert hatte. Der Mann, der ihr jetzt den Obolus entrichtete, schien aus dem Nichts aufgetaucht zu sein.
»Und wer schließt morgens wieder auf?«
Sie legte das zweite Fünfzig-Cent-Stück auf das erste. Ein Euro in zehn
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