Herbstwald
finden, in dem Catharina Aigner die letzten Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Die Läden ihrer Wohnung standen offen und gaben den Blick in ein tiefes schwarzes Loch frei. Es schien, als wollte die Dunkelheit noch ein Leben in das unendliche Nichts ziehen, um es zu verschlingen.
Unter ihm rauschte der Sparrenlech. Es war ein angenehmes, gleichmäßiges Rauschen, nicht wie beim Kraftwerk. Das Wasser vermittelte eine Ruhe, die ihm jetzt trügerisch vorkam. So, als ob der Bach ihn verhöhnen wollte.
Das blau-gelbe Ochsentor schimmerte schwach im Licht der Straßenbeleuchtung. Ein Hinweisschild wies den Weg zum Haupteingang in 150 Metern.
Irgendwo stritten sich Katzen um ihr Revier. Das unterlegene Tier weinte wie ein kleines Kind, bis jemand ein paarmal in die Hände klatschte und es wieder ruhig wurde.
Davídsson suchte in der Dunkelheit nach der Person, konnte sie aber nicht entdecken. Er fuhr mit seinen Händen über das feuchte Brückengeländer. Seine Finger rochen nach verrostetem Eisen, als er schließlich den Klingelknopf unter einem messingfarbenen Schild mit der Aufschrift ›Nachtglocke‹ drückte.
Er wartete, bis die Sprechanlage knackte.
»Sind Sie der Herr von der Kriminalpolizei?« Die Stimme klang verzerrt, aber er konnte erkennen, dass sie zu einer Frau gehörte.
»Ja. Ólafur Davídsson hier.« Er hielt den Dienstausweis vor das Objektiv einer Überwachungskamera, die offenbar erst vor kurzem über dem Tor angebracht worden war, und bemühte sich zu lächeln.
Ihm war auf der Brücke ein Gedanke gekommen, den er noch nicht zu Ende gedacht hatte. Es war eine offene Frage, die sich einen spontanen Weg an die Oberfläche gesucht hatte. Er hoffte, dass der Geruch des Eisens an seinen Händen reichen würde, um sich wieder daran zu erinnern, wenn das Gespräch mit der Nachtwächterin vorbei war und er müde im Bett des Hotelturms lag und nachdachte.
Die Nachtwächterstube lag parallel zum Sparrenlech. Er hatte sich den Eingang bereits tagsüber angesehen, sich das Dahinter jedoch ganz anders vorgestellt.
Der Raum war karg eingerichtet und kleiner als sein Hotelzimmer.
Emma Künzler gab den Weg in die Wachstube frei. Sie sah aus wie auf dem Foto, das Davídsson noch immer in der Innentasche seines Mantels bei sich trug. Ihre weißen Haare waren sorgsam geordnet, der Pullover und die fliederfarbene Stoffhose sahen ordentlich und gepflegt aus – keinesfalls altbacken.
»Möchten Sie sich hier zuerst umsehen oder soll ich gleich Ihre Fragen beantworten?«
Der Kriminalanalyst hatte sich darüber noch keine Gedanken gemacht. Die Stube interessierte ihn, aber es war vermutlich nicht wichtig für die Ermittlungen, sie zu kennen.
»Kannten Sie Catharina Aigner?«, fragte er schließlich, ohne zu einer Entscheidung gekommen zu sein.
»Wollen Sie sich nicht setzen?« Emma Künzler deutete auf die einzige Sitzgelegenheit im Raum. Das helle Polster des Fernsehsessels schien neu bezogen worden zu sein. Davídsson legte seine Arme auf zwei Holzlehnen, während sie sich auf das Bett setzte. Die kräftigen Farben der Bettwäsche passten nicht zu der sonstigen Möblierung.
Neben dem Bett stand ein kleiner Tisch mit einer grauen Kunststofftischdecke und einem farblosen Telefon. Davídsson konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal ein Telefon mit einer Wählscheibe gesehen hatte.
Dem Bett gegenüber stand ein alter Ölofen. Die dunkelbraun lasierten Kacheln wirkten spröde, vielleicht, weil der Ofen keine Wärme mehr von sich gab. Davídsson hatte gesehen, dass irgendwann ein moderner Heizkörper installiert worden war, der jetzt hinter dem Fernsehsessel trockene Hitze verbreitete.
»Als Nachtwächter kennt man fast alle Bewohner der Fuggerei.«
»Äh, ja. Also kannten Sie auch Catharina Aigner?«
»Sie hat mir bei meinem Umzug geholfen. Ich habe früher in einem anderen Haus gewohnt, aber dann ist mein Enkel zu mir gezogen und ich brauchte eine größere Wohnung. Dabei hat sie mir geholfen.« Sie bemühte sich Hochdeutsch zu sprechen, aber Davídsson erkannte die augsburgerische Färbung in der Aussprache bestimmter Wörter.
»Wann war das?«
Sie überlegte. »Das müsste ungefähr vor zwei Jahren gewesen sein. Ich musste drei Jahre auf die neue Wohnung warten.« Sie überlegte wieder. »Ja, das kommt hin. Vor zwei Jahren.«
Hinter ihr hing ein Kruzifix an der Wand. Davídsson hatte eine Bibel auf einem breiten Brett liegen sehen, das direkt daneben an der Wand angebracht worden war
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