Hercule Poirots Weihnachten
dieser Fall liegt ganz anders als derjenige der beiden Brüder im Speisezimmer. Alfred und Harry Lee können sich nicht ausstehen und würden sich demnach nicht gegenseitig durch falsche Aussagen schützen.»
«Und wie steht es mit Stephen Farr?»
«Auch er ist verdächtig, weil sein Plattenspieler-Alibi doch ein bisschen fadenscheinig ist. Andererseits ist gerade ein solches Alibi manchmal glaubwürdiger als ein sozusagen unumstößliches, das in zehn von hundert Fällen ja doch konstruiert worden ist.»
Poirot neigte gedankenvoll den Kopf.
«Ich verstehe, wie Sie es meinen. Es ist das Alibi eines Menschen, der nicht ahnte, dass er vielleicht jemals eines brauchen werde.»
«Genau das meine ich. Und außerdem glaube ich nicht, dass ein Fremder in diese Sache verwickelt ist.»
«Da stimme ich Ihnen bei», warf Poirot schnell ein. «Das Gänze ist eine Familienangelegenheit. Gift, das im Blut arbeitet – Gefühle, die tief sitzen. Ich glaube, hier spielen Hass und Wissen mit.» Er machte eine vielsagende Handbewegung. «Ich weiß nicht – es ist alles sehr schwierig.»
Inspektor Sugden hatte respektvoll gewartet, war aber von Poirots Gedankengängen nicht sonderlich beeindruckt.
«Sicherlich, Mr Poirot», sagte er höflich. «Aber wir werden schon dahinter kommen, verlassen Sie sich drauf. Wir haben jetzt die Möglichkeiten festgestellt. George, Magdalene, David und Hilda Lee – Pilar Estravados – und fügen wir noch bei: Stephen Farr. Jetzt kommen wir zum Motiv. Wer hatte einen Grund, den alten Mr Lee aus dem Weg zu räumen?
Auch dabei können wir ein paar Leute von vornherein ausschalten. Miss Estravados zum Beispiel. Wenn ich recht verstanden habe, bekommt sie nach dem jetzt vorliegenden Testament überhaupt nichts. Wäre Simeon Lee vor seiner Tochter Jennifer gestorben, hätte diese ihren Anteil erhalten, und von ihr wäre er vielleicht auf Pilar übergegangen; aber da Jennifer Estravados ihrem Vater im Tod voranging, fällt ihr Erbteil den übrigen Geschwistern zu. Also lag es durchaus im Interesse von Miss Estravados, den alten Herrn am Leben zu wissen. Nachdem er sie sehr freundlich aufgenommen hatte, ist anzunehmen, dass er sie in einem neuen Testament bedacht hätte. Also hatte sie durch seinen Tod nichts zu gewinnen und alles zu verlieren. Sind Sie damit einverstanden?»
«Vollkommen.»
«Natürlich könnte sie ihm im Verlauf eines Streits die Kehle durchgeschnitten haben, aber das erscheint mir sehr unglaubwürdig. Erstens war sie dem alten Herrn zugetan, und zweitens lebte sie noch nicht lange genug im Haus, um irgendeinen Hass auf ihn zu haben. Aus all diesen Erwägungen dünkt es mich sehr unwahrscheinlich, dass Miss Estravados etwas mit dem Verbrechen zu tun hat – es sei denn, man will geltend machen, einem Menschen die Gurgel durchzuschneiden sei eine sehr unenglische Art zu morden, wie Ihre Freundin Magdalene Lee sich ausdrückte.»
«Nennen Sie sie nicht meine Freundin», fuhr Poirot auf. «Oder soll ich von Ihrer Freundin Pilar sprechen, die Sie so schön findet?»
Er erlebte das Vergnügen, mit anzusehen, wie der gute Inspektor wieder sichtlich verlegen wurde und tiefrot anlief. Poirot betrachtete ihn mit diebischer Schadenfreude. Dabei klang eine Spur ehrlichen Neids in seiner Stimme mit, als er sagte: «Es stimmt übrigens, dass Ihr Schnurrbart prachtvoll ist. Sagen Sie, benützen Sie eine Spezialpomade?»
«Pomade? Allmächtiger! Nein! Ich tue gar nichts zu seiner Pflege. Er wächst von selber.»
Poirot seufzte.
«Ein Geschenk der Natur.» Er zupfte an seinem eigenen üppigen schwarzen Schnurrbart und seufzte wieder. «Man kann die teuersten Salben verwenden», murmelte er, «das Nachfärben bekommt den Haaren einfach nicht.»
Inspektor Sugden schien für diese Fragen männlicher Schönheitspflege kein Interesse aufzubringen. Er fuhr unbeirrt fort: «Was den Grund für diesen Mord anbelangt, so glaube ich, dass wir auch Stephen Farr ausschließen können. Es ist möglich, dass zwischen dem alten Mr Lee und Farrs Vater irgendwelche Zwistigkeiten bestanden hatten, unter denen der alte Farr litt - aber mir kommt das nicht sehr wahrscheinlich vor. Farr war zu ruhig und sicher, als er davon sprach, und ich glaube nicht, dass er diese Sicherheit nur spielte. Nein, auf dieser Linie werden wir keine Fortschritte erzielen.»
«Das kommt mir auch so vor», stimmte Poirot ihm zu.
«Und noch eine Person hatte allen Grund, den alten Lee am Leben erhalten zu wollen – sein Sohn
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