Hercule Poirots Weihnachten
Harry. Zugegeben, er ist Nutznießer des Testaments, aber ich bin überzeugt, dass er nicht wusste, dass sein Vater ihm etwas hinterlassen werde. Jedenfalls hat er es bestimmt nicht wissen können. Es scheint im Gegenteil die Meinung vorgeherrscht zu haben, Harry habe durch sein Durchbrennen die Erbschaft verspielt. Aber jetzt schien er wieder in Gnaden aufgenommen zu werden. Es lag also in seinem Interesse, dass sein Vater ein neues Testament verfassen wollte, und er wäre doch nicht so verrückt gewesen, den alten Herrn vorher zu töten. Außerdem wissen wir ja, dass er es gar nicht hätte tun können. Sehen Sie, Mr Poirot, wir kommen ganz gut vorwärts. Wir können eine ganze Reihe Leute aus der Liste der Verdächtigen streichen.»
«Allerdings. Bald wird überhaupt niemand mehr übrig sein.»
«So weit sind wir denn doch noch nicht. Es bleiben uns George Lee und seine Frau, David Lee und Hilda Lee. Sie alle gewinnen durch den Tod Simeon Lees, und George Lee soll sehr geldgierig sein. Und sein Vater hatte gedroht, ihm seinen Zuschuss zu kürzen. Also hatte George Lee Grund und Möglichkeit für den Mord.»
«Weiter bitte!»
«Mrs George Lee. Ebenfalls gierig auf Geld wie eine Katze auf Sahne. Und ich könnte wetten, dass sie gerade jetzt bis über die Ohren in Schulden steckt. Sie war eifersüchtig auf die kleine Spanierin, weil sie bemerkte, dass der alte Herr die Kleine gern mochte. Als sie hörte, dass der Schwiegervater nach einem Anwalt verlangte, schlug sie schnell zu. Das sind schwerwiegende Verdachtsmomente.»
«Sicherlich.»
«Bleiben David Lee und seine Frau. Sie figurieren im Testament als Erben; aber ich glaube nicht, dass das Geldmotiv bei ihnen sonderlich ins Gewicht fällt.»
«Nein?»
«Nein. David Lee scheint ein Träumer zu sein – kein geschäftstüchtiger Mensch. Aber er ist – nun, er ist ein sonderbarer Kauz. Meiner Ansicht nach hätte der Täter drei Motive haben können: den Diamantendiebstahl – das Testament - puren, klaren Hass.»
«Ach, so sehen Sie die Dinge?»
«Gewiss, und zwar von Anfang an. Wenn David Lee seinen Vater ermordet hat, dann bestimmt nicht des Geldes wegen. Und wenn er der Täter war, dann würde das diesen ungemein blutigen Mord erklären.»
Poirot sah ihn anerkennend an.
«Richtig. Ich fragte mich, ob Sie das in Erwägung ziehen würden. So viel Blut – sagte Mrs Alfred. Es erinnert einen an uralte Rituale, an Blutopfer, daran, dass sich die Menschen mit dem Blut der Geopferten beschmierten.»
Sugden runzelte die Stirn.
«Wollen Sie damit sagen, dass der Täter verrückt gewesen sein muss?»
« Mon cher, es schlummern tiefe, verborgene Instinkte in den Menschen, von denen sie oft selber keine Ahnung haben. Blutrausch, Rachegefühle…»
«David Lee scheint ein ruhiger, harmloser Mensch zu sein», wandte Sugden zweifelnd ein.
«Sie übersehen die psychologische Seite dieser Sache», sagte Poirot. «David Lee ist ein Träumer, lebt fast ausschließlich in der Vergangenheit, und in ihm ist die Erinnerung an seine Mutter noch ungewöhnlich lebendig. Er vermied jahrelang ein Zusammentreffen mit seinem Vater, dem er die schlechte Behandlung seiner Mutter nie verziehen hat. Nun kam er nach Hause, um sich mit seinem Vater auszusöhnen – dies einmal vorausgesetzt. Aber er konnte nicht verzeihen und vergessen. Wir wissen nur eines: dass David Lee angesichts des Leichnams seines Vaters irgendwie befriedigt und beruhigt sagte: ›Gottes Mühlen mahlen langsam.‹ Vergeltung! Zahltag! Das Böse getilgt durch Blut!»
Sugden schauderte ein wenig.
«Hören Sie auf, Mr Poirot.», sagte er. «Es überläuft mich kalt. Aber es könnte sich sehr wohl verhalten, wie Sie sagen. In diesem Fall weiß Mrs David Lee Bescheid, ist aber entschlossen, ihren Mann zu schützen. Das traue ich ihr ohne weiteres zu, aber dass sie eine Mörderin sein sollte – kann ich mir nicht vorstellen. Sie ist eine so gemütvolle, einfache Frau.»
«Ach, so kommt sie Ihnen vor?» Poirot sah den Inspektor eigentümlich forschend an.
«Ja, ich meine – sie ist so häuslich, wenn Sie verstehen, was ich meine.»
«Gewiss, ich verstehe sehr gut.»
Sugden wurde sichtlich verwirrt.
«Mr Poirot, Sie haben Ihre eigenen Ansichten über den Fall! Bitte, sagen Sie sie geradeheraus.»
«Gewiss habe ich verschiedene Ideen, aber sie sind alle noch recht verschwommen. Wir wollen lieber zuerst Ihre Aufstellung durchgehen. Also: halb vier Familienzusammenkunft. Familie ist Zeuge des
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