Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
Sehnsucht und hundert
feine, tätige Nerven arbeiten und schaffen und fiebern«. Und auf
einmal ist das nicht Schumann mehr. Was ist es doch? Ja, Chopin.
Natürlich, Chopin, die erste Nocturne. Oder die dritte. »Glaszarte,
scheue Töne, vermischte und traumwandelnde Takte, wundersam
geschlungene, elegante Figuren, und die Akkorde erregend, wie
verzerrt, Harmonie und Dissonanz nicht mehr zu unterscheiden. Alles
auf der Grenze, alles ungewiß, nachtwandlerisch taumelnd, und
mitten hindurch mit dünnem Fluß eine süße, milde, kinderselige
reine Melodie, Chopin!«
Man könnte statt Chopin auch Hesse sagen. Es ist dieselbe
Sehnsucht nach Festen und Dolchen; dieselbe Trauer, über dunkle,
beglänzte Wasser gebeugt. Es ist dasselbe Sichverschuldetfühlen und
Hinwegverlangen, bevor noch die Tat geschehen. Es ist die
Erbsündenmusik aus dem polnischen Adelslande. Und da ist sie
wieder, Hesses erschrockene Mondwelt, von Küssen und Tränen
durchweht, mitten im Philisterland. Da ist er wieder, der großäugige
Traum, und das Suchen beginnt, zurück zum Anfang und zur
Herkunft, bis zu jenem Punkte, mit dem alles Leid und Lied
begonnen hat. Und dem Dichter steigt die Frage auf: »Bist du
eigentlich glücklich?« Und er sucht nach seinem »frohesten Tag«. Er
wandert
über
Gletscher,
wandert
auf
einer
blühenden
Odenwaldstraße mit einem Gesellen, der Knulp heißen könnte. Er ist
eine Morgenstunde lang auf der Schwäbischen Alb, er kommt immer
näher nach Hause. Er kommt zu dem Tag, »da ein Bote kam und
grüßte und Geld heischte und die Botschaft daließ, daß fern in der
Heimat meine Mutter gestorben war«.
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Eine andere dieser Skizzen, aus dem Jahre 1907, aus demselben
Jahre, da der Dichter sich ein eigenes Haus baute, spricht eigentlich
nur von der Lust des Wanderns. »Lindenblüte« ist diese Skizze
betitelt: »O ihr Wanderburschen, ihr fröhlichen Leichtfüße«, so klingt
da die Sehnsucht des Knulp-Dichters an, »jedem von euch, auch
wenn ich ihm einen Fünfer geschenkt habe, sehe ich wie einem König
nach, mit Hochachtung, Bewunderung und Neid. Jeder von Euch,
auch der Verlottertste, hat eine unsichtbare Krone auf; jeder von
euch ist ein Glücklicher und Eroberer. Auch ich bin euresgleichen
gewesen und weiß, wie Wanderschaft und Fremde schmeckt. Sie
schmeckt, trotz Heimweh und Mangel und Unsicherheit, gar süß...
Nicht daß ich alt oder ein Philister geworden wäre! Ach, ich bin
vielleicht törichter und zügelloser als je, und zwischen mir und den
klugen Leuten und ihren Geschäften ist noch immer kein Verständnis
und kein Bündnis aufgekommen. Ich höre auch immer noch wie in
den drängendsten Jünglingszeiten (er ist jetzt dreißig Jahre alt), die
Stimme des Lebens in mir rufen und mahnen, und ich habe nicht im
Sinn, ihr ungetreu zu werden.« Nein, diese Stimme, sie ist »leise und
dringlich geworden« und führt den Dichter »immer einsamere,
dunklere, stillere Wege, von denen ich noch nicht weiß, ob sie in Lust
oder in Leid enden sollen, die ich aber gehen will und gehen muß«.
Es ist nichts mit der »bürgerlichen Epoche« in Hesses Leben. Er ist
der Steppenwolf und Outsider, der Knulp und Wanderer, der
Antiphilister und Leidende; auch in der Ehe. Auch im eigenen Hause
ist er ein Fremder, den man beherbergt; ein fahrender Geselle, den
man füttert und der sich der Hauskatze näher fühlt als all seinem
schönen Besitz. Andere dieser Bodensee-Skizzen (im ganzen sind es
sieben) sprechen vom Leben auf dem See, mit Angel- und
Rudergerät; von den Hegau-Sommertagen, von Fischern und
einsamen Mittagstunden. Sie sprechen davon ohne Aufregung; in
einem schweren, langsamen Gestus; als seien schon hundert Jahre
vorüber, und diese Skizzen sind doch soeben geschrieben.
Auch die Freundschaft mit Ludwig Finckh kann man nicht eben
bürgerlich nennen. In der hohen Literatur zuckt man beim Namen
des Dichters geringschätzig die Achseln. Auch sein bestes Buch, der
Hesse gewidmete »Rosendoktor«, hat weder die europäische, noch
die deutsche Sprache um eine neue Wendung, ein neues Wort, einen
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neuen Gedanken bereichert. Einmal aber hat ihn Bierbaum gerühmt
und Walter Heymel ihn in seine »Chansons« aufgenommen. Er hat
nicht die Schärfe eines Grammatikers, nicht jene Skrupel seines
Handwerks, die dem Schriftsteller eignen müssen, wenn seine
Stimme soll vorhanden sein. Er schreibt seine Sätze wacker und
frisch heraus, wie sie der Dialekt
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