Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
»Camenzind« das Thema
wechseln und die Gesundheit beginnen. War »Lauscher« das Echo
bibliophiler Studien, so ist »Camenzind« der Schritt ins Leben, in
eine andere, schwere Natur. Eine Vergröberung, wenn man will, und
eine Selbstverschuldung, aber auch eine Selbstentdeckung und ein
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Herausschreiben dessen, was nicht mehr an Beispiel und Vorbild
gebunden ist. Im »Camenzind« gibt es keinen Pietismus mehr, kein
Elternhaus mit Gebot und Lehre; hier herrscht die pura natura. Hier
ist ein Werk, das von der Maxime ausgeht, daß Bildung erst könne
beginnen, wo keine Verbildung mehr vorhanden.
Vom Wesen Gottfried Kellers übrigens finde ich in diesem Buch sehr
wenig. Die Becherszenen und der schrullige Onkel Konrad aus
Nimikon können ebensowohl den Großvater aus Weißenstein zum
Urbilde haben wie den Zürcher Stadtschreiber, der den politischen
Gästen und Interessen seiner Heimat ganz anders erschlossen war
als der durchaus unpolitische Dichter des »Camenzind«. Freilich,
jener Großvater aus Weißenstein und der Dichter Keller haben in
manchem Punkte eine frappante Ähnlichkeit. Eher aber als Keller
könnte der Dichter Stifter in seiner Abneigung gegen eine Menschen
tragende Welt Pate gestanden haben, wenn – ja, wenn ihn Hesse
damals schon gelesen gehabt hätte.
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Gaienhofen am Bodensee
Mit dem »Camenzind« beginnt, merkwürdig genug, die »bürgerliche
Epoche« in Hesses Leben. Im Sommer 1904 heiratet er Maria
Bernoulli aus altem Basler Mathematikergeschlecht. Sie ist neun
Jahre älter als der Dichter und steht bei der Heirat fast in demselben
Alter, in dem Hesses Mutter Maria stand, da der Dichter geboren
wurde. Auch in der Statur, im Temperament, in der
leidenschaftlichen Neigung zur Musik erinnert Maria Bernoulli an des
Dichters Mutter. Für den Biographen ist sie vor allem diejenige Frau,
der Hesse noch 1919, nachdem die Ehe schon getrennt war, die
wundersame Erzählung »Iris« in den »Märchen« gewidmet hat; jene
kleine Erzählung, die zum Schönsten gehört, was Hesses Werk
enthält: die Erzählung von der blauen Schwertlilie, die, ein Symbol
der streitbaren Romantik, im Heimatgarten der Mutter wuchs und
erblühte.
Der Dichter erzählt in jenem Märchen die Irrwege durchs Leben, den
Verlust der Kindheit und die Rückkehr zur Mutter, die Hinwendung
zur Gattin. »Sie war älter«, heißt es da, »als er sich seine Frau
gewünscht hätte. Sie war sehr eigen, und es würde schwierig sein,
neben ihr zu leben und seinem gelehrten Ehrgeiz zu folgen, denn von
dem mochte sie nichts hören. Auch war sie nicht sehr stark und
gesund und konnte namentlich Gesellschaft und Feste schlecht
ertragen. Am liebsten lebte sie mit Blumen und Gesang und etwa
einem Buch um sich, in einsamer Stille, wartete, ob jemand zu ihr
käme, und ließ die Welt ihren Gang gehen. Manchmal war sie so zart
und empfindlich, daß alles Fremde ihr weh tat und sie leicht zum
Weinen brachte. Dann wieder strahlte sie still und fein in einem
einsamen Glück, und wer sie sah, der fühlte, wie schwer es sei,
dieser schönen, seltsamen Frau etwas zu geben und etwas für sie zu
bedeuten...«
»Wenn ich mit einem Manne leben soll«, sagt Iris, »so muß es einer
sein, dessen innere Musik mit der meinen gut und fein
zusammenstimmt, und daß seine eigene Musik rein und daß sie gut
zu meiner klinge, muß sein einziges Begehren sein... Du wirst
dabei«, so fährt sie fort, »wahrscheinlich nicht weiter berühmt
werden und Ehren erfahren; dein Haus wird still sein, und die Falten,
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die ich auf deiner Stirn seit manchem Jahr her kenne, müssen alle
wieder ausgetan werden...«
Der Dichter vernimmt diese Worte wohl; aber er will anderes vom
Leben, und wenn er eine Frau haben würde, so müßte Leben und
Klang und Gastlichkeit im Hause sein.
»Ach, höre mich wohl«, sagt Iris, »alles was dir jetzt Spielzeug ist,
ist mir das Leben selbst und müßte es auch dir sein, und alles, woran
du Mühe und Sorge wendest, das ist für mich ein Spielzeug, ist für
meinen Sinn nicht wert, daß man dafür lebe.« Und dann das
Muttermotiv: »Mehrmals hast du mir gesagt, daß du beim
Aussprechen meines Namens jedesmal dich an etwas Vergessenes
erinnert fühlst, was dir einst wichtig und heilig war. Das ist ein
Zeichen, und das hat dich alle die Jahre zu mir hingezogen. Auch ich
glaube, daß du in deiner Seele Wichtiges und Heiliges verloren und
vergessen hast, was erst wieder wach sein muß,
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