Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
»Gertrud«, und »Gertrud« ist gerade derjenige Roman, der das
Schwanken des Künstlers zwischen Gral und Begehren, zwischen
himmlischer und irdischer Liebe darstellt. Diese Jünglinge wollen von
ihren Freundinnen getröstet, geleitet, betreut, genommen sein, und
empfinden das verliebte Wesen doch als Absurdität und Irrtum. Sie
haben Hemmungen und versagen, die Liebe gelingt ihnen nicht. Sie
verlangen zu wenig und erwarten zu viel; ja sie empfinden alle
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Skrupel und bösen Sensationen eines Vergehens, einer Verlockung
zu Dieberei und Verbrechen. Es ist nicht nur ländliche Verlegenheit.
Es ist eine Glut, die ihnen die Sprache verschlägt, und ein Mitklingen
von widerstrebenden dunklen Erinnerungen.
Man sieht: das Leben am Bodensee, in seiner bewußten Kulturferne,
hat doch Format. Es entspricht einer damals beginnenden
allgemeineren Neigung, der Großstadt und der Zivilisation zu
entgehen. Man möchte, in der Südsee, in den Wäldern Kanadas oder
in Lappland, die robuste Gesundheit des Primitiven und möchte, in
all der Kulturwirrnis, die unverwirrbaren Urbilder wiederfinden. In
dieser Bodensee-Zeit entsteht ein kleines Prosastück »Der Brunnen
im Maulbronner Kreuzgang«, und es ist eine tiefe Erinnerung: »Lied
meiner Jugend! Kein Ton der Welt sprach so zu mir wie du, und dich
hatte ich vergessen können!« Und man lauscht, und der Liedbrunnen
rauscht gar vielfältig in Hesses Büchern. Viele Brüder und Urbilder
hat er gehabt; er ist oft und gut belauscht worden. So nur ist es
möglich, daß das »kleine Abtsbrünnlein« im »Knulp«, das »noch
immer geheimnisvoll wie vor all den verflossenen Jahren im
Erdgeschoß eines uralten Hauses entsprang und in der seltsam
klaren Dämmerung seiner Quellstube zwischen den Steinplatten
rauschte« –, daß dieses Abtsbrünnlein zu einem Bilde des
mystischen Lebens selber wird.
Und es entsteht jene vielgedruckte Probe Hessescher Prosa, die
kleine Erzählung »Der Wolf«, als ein frühestes Auftauchen des
Steppenwolf-Motivs. Drei Wölfe im französischen Jura haben sich aus
ihrer Einsamkeit aufgemacht und fallen, vom Hunger getrieben, in
die Ställe der Bauern von St. Imer. Zwei werden erschlagen, der
dritte entkommt verwundet über den Schnee auf den Berg
Chasseral, wo eben der rote Mond aufgeht. Der Flüchtling wird von
den Bauern, die seiner Blutspur folgen, umstellt und ebenfalls
erschlagen. Vorher aber sitzt er, abgetrieben und traurig, auf der
Höhe des verschneiten Berges, in Not und Einsamkeit, fühlt den Tod
herankommen und sieht so den roten Mond aufgehen. Des Dichters
Sympathie ist bei dem schönen, gehetzten Tier, wie sie später im
»Kurgast« bei den beiden Mardern ist, die mit so leichten und
behenden Sprüngen zwischen all dem Krankengetue ihren Käfig
durchmessen. Die Brutalität der Verfolger spiegelt sich im Weh der
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erliegenden Kreatur. »Keiner«, sagt der Dichter von den Menschen,
»sah die Schönheit des verschneiten Forstes, noch den Glanz der
Hochebene, noch den roten Mond.«
Jene Zurückgezogenheit von Gaienhofen, jener Verzicht auf die
»modernen Ideen«, auf Philanthropie und soziale Fragen, auf Marx
und Bakunin und Großstadtelend und Kokottenwesen –: all dies
begünstigt eine Versunkenheit in die Natur; ein Praktizieren und
Ausbauen der »Camenzind«-Parole. Ein Ideen-Studium, wenn auch
kein intellektuelles, ist schließlich auch das abgesonderte
Sicheinträumen in diejenigen Bilder, die eine geistige Tragkraft
haben. Ein Ideen-Studium ist auch das Sublimieren einiger weniger
Urphänomene nach Goethescher Art. Die Sprachbilder werden immer
mehr isoliert, immer mehr von Ballast gereinigt, bis sie von selbst zu
atmen und auszuströmen beginnen. So müht sich der Dichter Han
Fook in Hesses »Märchen« mit dem Umriß der Erscheinung; so dreht
und wendet, durchleuchtet und glüht er die Bilder aus, bis schließlich
der Spiegel lebendiger, echter ist als die Wirklichkeit. Und so vergißt
man es nicht mehr, wenn Hesse in einer Reiseskizze vom Gotthard
(im »Bilderbuch« unter »Verschiedenes«) die ganze Erzählung so
vorbereitet und aufbaut, daß das einsame Flügelspiel eines
kreisenden Steinadlers zum unerhört stummen, fernen und
majestätischen Schauspiel der Dichterseele selbst wird. Wort, Dichter
und Gegenstand werden identisch und erlangen so jenes Gewicht
und jene Fülle wieder, die das entwertete heutige Leben nicht mehr
besitzt.
Hesse bringt für solche
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