Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
das die
sauberen, wohlgepflegten Stätten liebend umstrich –: man hatte sich
nicht völlig zu lösen vermocht. Wer hatte einen auch in der Schule
die Klassenkämpfe gelehrt? War die höhere Schule nicht selbst ein
Klassen-, ein Bürgerinstitut? Es war doch ein guter Instinkt gewesen,
sich ihr zu entziehen.
Und die Philosophie, die Tradition, die auf den höheren Schulen
gelehrt wurde: wie stand es damit? Wenn man die eintreffenden
Haßbriefe der Studenten las, dann stand da: »Ihre Kunst ist ein
neurasthenisch-wollüstiges Wühlen in Schönheit, ist lockende Sirene
über dampfenden deutschen Gräbern«; dann trompetete aus diesen
Briefen »schmetternde Inbrunst«. Dann hatten die Kant, Fichte und
Hegel eine vertrackte Ähnlichkeit mit den Scharnhorst, Blücher und
Gneisenau. Vom »Ofterdingen« und vom »Kater Murr«, von den
»Nachtwachen des Bonaventura« und von »Walt und Vult«, und wie
die auchdeutschen Dichtungen alle hießen, war kaum die Rede. Man
konnte es den aufgeregten Briefschreibern nicht einmal übelnehmen;
sie hatten es nicht anders gelernt.
Wollte man aufrichtig sein, so mußte man gestehen, daß man selber
die Politik stets von der leichten Seite genommen hatte. Hesse hatte
zwar 1905 mit Ludwig Thoma und Conrad Haußmann eine freisinnige
Zeitschrift redigiert, die gegen das persönliche Regime Wilhelms II.
gerichtet war. Aber ein »März« ist noch lange kein Frühling. Und was
besagte das höchstpersönliche Regime eines Soldatennarren, was
besagte es gegen die Handels- und Finanzkonsortien, die ihre
Maschinen ausprobierten und dazu aus Tausenden von Fabriken und
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Büros das wohldressierte Menschenmaterial bezogen? Die
sentimentale, weltfremde Erziehung, die man als Bürgersohn
genossen, und auch die humanistische Bildung –: waren sie nicht
allerhöchste Staatsabsicht, und trat nicht jetzt ihr Sinn und Zweck
hervor? Daß diese Art von Zivilisation und Schule tödlich und ein
Schwindel sei, das stand schon in »Camenzind« und »Unterm Rad«.
Aber Dichtungen sind keine Handgranaten; sie wirken langsamer
oder gar nicht. Bücher galten wohl schon damals nur als Zeitvertreib,
weil kein Mensch mehr sich selber ernst nahm. War man nicht ein
armer Aff und Hanswurst gewesen, an einen festen Grund in all dem
Treiben zu glauben?
Verglich man die eigenen früheren Werke jetzt mit der Wirklichkeit:
hatte man, in einer tieferen Region, mit dem »Camenzind« nicht den
Muskelkult mehr gefördert als die stille, franziskanische Gebärde?
Hatte man im »Diesseits« nicht mit großer Affiche und für solche, die
nur die Titel lesen, der Ländergier und dem Genußleben Vorschub
geleistet? War die Indienreise nicht als ein entfernter Beitrag zur
Vorkriegs-Spionage aufzufassen? Stand in »Roßhalde« nicht, daß die
Not das Gebot bricht? Trug »Gertrud« nicht dazu bei, den
allgemeinen Rausch und Taumel zu fördern? Nur den kleinen
»Lauscher«, nur ihn konnte man nicht mißverstehen. Da war eine
Künstlichkeit, die geradezu abstieß; da war eine dunkle,
unsympathische Qualwelt, die jedermann auf sich zurückverwies. Ein
Glück war es jetzt zu nennen, daß Schmerzen und Qual und sonst
nichts, eine ausweglose Angst und ein unentrinnbares Leid zum
»Demian« geführt hatten. Nur noch den Schmerzen darf man
vertrauen; nur noch der Krankheit vielleicht.
In »Sinclairs Notizbuch« (bei Rascher in Zürich) findet sich ein Teil
der nach dem »Demian« geschriebenen Aufsätze. »Der Europäer«
(Frühling 1918) ist eines der schönsten und eigenartigsten Stücke
dieser Sammlung; es enthält den Extrakt aus Hesses Indienreise und
zeigt den Schnittpunkt, in dem sich der »Siddhartha« mit der
damaligen Emigrantenpolitik berührt. »Wir Religiöse«, so spricht
jetzt Hesse. Das Wir ist neu und, wenn man den »Lauscher«
vergleicht, auch das Religiöse; denn damals im »Lauscher«
empfindet sich Hesse im Gegensatze zum Religiosus ja ganz als
Ästhet. »Das Reich Gottes ist inwendig in euch«, so mahnt ein
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anderer dieser Sinclair-Aufsätze. Es ist also nicht mehr in der Natur,
das Reich Gottes? Es könnte auch dort noch sein. Nachrichten aus
Deutschland besagen, daß die Republik bevorsteht. Wenn man sich
besinnen wollte, wenn man ernstlich davon durchdrungen wäre, daß
»das Äußere nicht nur Gegenstand unserer Wahrnehmung, sondern
zugleich Schöpfung unserer Seele ist«; daß »mit der Verwandlung
des Äußeren in das Innere, der Welt in das
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