Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
gefördert, auf den russischen Bolschewismus stützte und das
politische Ziel hatte, bei den Friedensverhandlungen und
nachfolgenden franco-amerikanischen Debatten die völlige Auflösung
der deutschen Militärmacht zu verhindern. In diese Konjunktur geriet
auch Spenglers Werk »Der Untergang des Abendlandes«; nur hatte
Spengler damals erst versprochen, im zweiten Bande auch Rußland
in den Kreis der Betrachtung zu ziehen. Ich will sagen: die Parole
vom Untergang des Abendlandes ist sehr deutsch betont; in
Frankreich beispielsweise glaubte man damals durchaus nicht an
solchen Untergang, in England wohl schon gar nicht, und auch diese
kleinen Provinzen gehören zu Europa und zum Abendland.
Aber dies abgerechnet, war es bei Hesse doch anders gemeint als bei
Spengler. Hesse sieht den Untergang mehr von innen kommen, aus
der Seelentiefe, und das Wort Untergang ist, gemäß seiner Lehre von
der Illusion der Gegensätze, bald auch für ihn identisch mit
Auferstehung. Was Hesse bei Dostojewski wahrnimmt, ist der
Gegensatz zu den Renaissance- und Reformationsidealen. Diese Welt
ist dem Untergang überantwortet; und da sie bisher des Dichters
tiefste Wurzeln enthielt, scheint ihm innen wie außen alles verloren.
Auch bei Dostojewski sind die Gegensätze aufgehoben; seine
Psychologie vermag den Verbrecher so gut wie den Heiligen zu
begründen. Sie berührt, in einem kaum verhohlenen Anarchismus,
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den Muttergrund der Dinge, die Welt des ewigen Wahns; jene
proteische Welt, in der sich jederzeit alles in alles verwandeln kann.
Es ist der indische Einschlag in Dostojewskis Denken, den Hesse
erfühlt und der im »Siddhartha«-Schluß – auch hier ist wieder ein
Schnittpunkt – Gestalt gewinnt. Es ist die demiurgische Welt, die
zuerst im »Demian« hervortrat und die für Hesse die Aufhebung der
Moral, die Befreiung von Gesetz, Staat, Schule, besonders von der
Enge der väterlichen Erziehung bedeutet. Die Nachtseite des Lebens
soll in die Humanität einbezogen werden. Das bedingt eine andere
Einstellung zu den Verdrängungen, als da sind vierter und fünfter
Stand, Proleten, Handwerksburschen, Déracinés, Entgleiste,
Ausgestoßene; aber auch zu Verbrechen, Korruption, Mord, Diebstahl
und Laster. Der humane Kern dieser nach Hesse typisch
europäischen Verdrängungen soll gehoben, anerkannt und
aufgenommen werden in das neue Weltbild. Das ist die Wiedergeburt
und ist die Wurzel einer neuen Kultur, einer neuen Ordnung, einer
neuen Moral.
Es ist ein Thema, das sich nicht in zehn, nicht in hundert Debatten
erschöpfen läßt. Wichtig scheint mir dabei, daß Hesse mit diesem
Aufsatz auch die letzte Schranke seiner protestantisch-deutschen
Welt durchbricht. Und bedeutsam scheint mir, daß es Folgerungen
aus der Psychoanalyse und dem »Demian« sind, wenn er sich, etwa
Nietzsche und dessen zarathustrischer Lichtwelt gegenüber sehr
gegensätzlich, mütterlich determiniert zeigt. Die Welt des
Unbewußten und die Rückkehr dahin, die Welt des Dostojewskischen
»Idioten« wird befürwortet. Und so die Welt auch des Apostels
Paulus, den Nietzsche so töricht denunziert hat; jenes Apostels, der
die idiotai, die Wiedergeborenen, die »Kindlein«, gegen den
alexandrinischen Wissenswust in Bewegung setzt.
Auch dies sei betont, daß Hesse also im »Siddhartha« eine Art
Synthese zwischen dem Manne aus Naumburg und dem aus Moskau
zu bewirken versucht; daß er beide von Grund aus erlebt hat und
ihre Einsichten in die Sprache des indischen Priestersohnes verweht.
Es gibt keine Stände, keine Nationen mehr; es soll auch keinen
Gegensatz zwischen Europa und Asien mehr geben. In Hesses Buch
»Aus Indien« trat dieser Versuch einer Verbrückung zum erstenmal
auf. Im Tessin wird Hesse sich mit seinen fortgesetzten religiösen,
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indischen und chinesischen Studien immer tiefer in dieses Ziel
versenken. Sein Werk hat alle europäischen Kasten in sich
aufgenommen. Er kennt Mitteleuropa; seine früheren Bücher waren
eindringliche Studien auf diesem Gebiet. Nun bleibt nur die eigene
Person, das eigene nackte Leben, und in der Übergangszeit die
Verantwortung nur vor dem eigenen Traum: vor dem lächelnden,
wunden Bild des Menschen; vor einer Vereinigung von Buddha und
Christus.
Daß man zart war, daß man sich hat wandeln können und es noch
immer kann; daß man nicht erstarrt war, sondern elastisch: dies
allein hatte standgehalten. Daß man noch immer am Leben war; daß
einem
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