Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
geschrieben
wie die Würde auf einem stillen Schneegipfel... Erst jetzt sah ich
ganz seine Wirklichkeit und Größe... Bisher war mein Leben ein Weg
gewesen, bei dessen Anfängen ich viel in Liebe verweilte, bei Mutter
und Kindheit, ein Weg, den ich oft singend und oft verdrossen ging
und den ich oft verwünschte – aber nie war das Ende dieses Weges
klar vor mir gestanden... der Tod schien mir nur der zufällige Punkt
zu sein, wo diese Kraft, dieser Schwung und Antrieb einmal
erlahmen und erlöschen würde.
Jetzt erst sah ich die Größe und Notwendigkeit auch in diesem
Zufälligen und fühlte mein Leben an beiden Enden gebunden und
bestimmt und sah meinen Weg und meine Aufgabe, dem Ende
entgegenzusehen als der Vollendung, ihm zu reifen und zu nahen als
dem ernsten Fest aller Feste.« Jetzt erst, von 1916 an, beginnt den
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Dichter die Lösung jenes andern großen Themas zu beschäftigen,
das seine Kindheits- und Jünglingsjahre erfüllte: die Lösung des
Verhältnisses zum Vater. Die Frucht ist, sechs Jahre später, der
»Siddhartha«. Vorher aber muß (im »Demian« und im »Klingsor«)
jene gerade vom Vater lange Zeit zurückgedämmte Welt eines
triebhaft wuchernden Sinnen- und Gefühlslebens Gestalt geworden
sein.
Im »Demian« fehlt der Vater; im »Siddhartha« fehlt die Mutter.
Beide Dichtungen ergänzen einander; beide wurzeln in der
Kriegszeit, und es scheint mir von merkwürdiger und tiefer
Bedeutung, daß der Dichter, während ringsum die Heimat einstürzt,
in schwerem persönlichem Leid jenen Bildern zustrebt, aus denen
alles religiöse Leben schöpft: den Urbildern von Mutter, Vater und
Sohn. Die Mutter gehört bei Hesse der dunklen, magischen,
kreatürlichen Sphäre an, der Vater gehört zur Lichtwelt. Im Sohne
aber liegen die dunklen mütterlichen Instinkte in tiefem Zwist mit
den hellen väterlichen. Indien ist für die reine und hohe, für die
Lichtsphäre nur ein poetisches Bild. Und da es nun einmal für den
Biographen entscheidend ist, daß er die Schwergewichte eines
Lebens richtig einordne und auf äußere Daten nicht allzuviel gebe, so
mag es mir erlaubt sein, den »Siddhartha« gewissermaßen
vorwegzunehmen, obgleich das Buch zwei Jahre später als der
»Klingsor« erschien.
Im »Siddhartha« sucht Hesse vor allem die Musik Indiens zu
erfassen. Er trägt ihren Klang seit frühestem Kindergedenken im
Ohr; diesen hieratischen Dreiklang, der den Satz gleich einem
Sternbild tönen läßt, indem er dreimal dasselbe sagt, nur in anderer
Wendung. Priesterlich tanzt und schreitet die Sprache, denn der
Priesterschritt ist ein feierlicher Urtanz, und das Tänzerische ist dem
Priester eigen. Ein wohlgefügtes Geschmeide ist diese Sprache,
sorglich sind die Verschlüsse und Verschränkungen angebracht, und
immer dort, wo ein Edelstein zu sitzen bestimmt ist, liegt eine
Wunde darunter, die mit ihm verdeckt und verschlossen wird. So
zieht sich kreuz und quer ein Goldgehänge und Silbergefüge über
den Leib des Erleuchteten, des Buddha, dessen Gesicht alle Zeichen
in sich verschlingt und in alle Zeichen sich auflöst. Und so kommt es,
daß Gowinda zuletzt verwundert seines Freundes Siddhartha Gesicht
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nicht mehr sieht. »Er sah statt dessen andere Gesichter, viele, eine
lange Reihe, einen strömenden Fluß von Gesichtern, von Hunderten,
von Tausenden, welche alle kamen und vergingen und doch alle
zugleich da zu sein schienen.«
Er sieht die Embleme, das Tempelgesicht, das Gesicht der Ruhe und
der heiligen Zeichen; das Gesicht der Götter und des ewigen
Kreislaufs. Alle diese Gesichte zusammen machen den Blick des
Erleuchteten aus, dem die Sprache des Dichters wie ein
phantastischer Kopfputz über die Schultern hängt. Diese Sprache ist
im Schmelztiegel der Schmerzen flüssig gemacht und über dem
Feuer des Schicksals geläutert worden. Es ist milder Goldglanz und
blaue Emaille in ihr und ein feines metallisches Klirren. Und die
Sprachkette ist gerafft zu vielen schwingenden Bogen, und alle
sammeln sich über dem riesigen Haupte des Krischna, der über den
Schlangen tanzt und der doch nur eines der Gesichte ist, die den
Blick des Brahmanensohnes Siddhartha erfüllen. Denn dieser kommt
von der Mutter her, und die Mutter trägt Götter wie Menschen im
Schoß; sie ist der Strom und der ewige Kreislauf.
Flaubert hätte eine indische Dichtung vermutlich anders geschrieben;
er hätte den Urwald der Religionen und das Getümmel
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