Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
Ich« das Tagen beginnt
(es ist, wie man sieht, die expressionistische Formel), dann könnte
noch immer ein Wunder geschehen.
»Zarathustras Wiederkehr«, geschrieben Dezember 1918, erschien
erst anonym 1919 im Verlag Staempfli zu Bern, dann ein Jahr später
auch bei Fischer. Dieser Zarathustra redivivus, der abermals einen
Schnittpunkt mit dem »Siddhartha« darstellt, ist Hesses
Revolutionsvermächtnis; ein Bekenntnis zur inneren Civitas dei. »Ihr
sollet verlernen, andere zu sein, gar nichts zu sein, fremde Stimmen
nachzuahmen und fremde Gesichter für die euren zu halten«, so
klingt es wie später vor Gowinda. »Liebe Freunde, wäre es nicht gut,
ihr besännet euch? Wäre es nicht gut, ihr würdet, wenigstens
diesmal, eure Schmerzen mit mehr Ehrfurcht behandeln, mit mehr
Neugierde, mit mehr Männlichkeit, mit weniger Kleinkinderangst und
Kleinkindergeschrei? Könnte es nicht sein, daß die bitteren
Schmerzen Stimmen des Schicksals sind und daß sie süß werden,
wenn ihr die Stimme verstehst? Könnte es nicht so sein?«
Es ist die Stimme dessen von Sils-Maria, und es ist bereits auch die
Stimme des Siddhartha, die hier spricht. Schon ist seine Lehre von
der Illusion der Gegensätze da, und der ganze Tonfall der Einsiedelei
und der Skepsis gegen das Tun und die Tat, die aus der Umgebung
von Fabrikschornsteinen kommen. »Wohl ihm, der zu leiden weiß!
Wohl ihm, der den Zauberstein im Herzen trägt! Zu ihm kommt
Schicksal, von ihm kommt Tat!« Es ist der amor fati Nietzsches; die
Liebe zum Unabänderlichen ist es, die Zarathustra-Siddhartha
predigen. Das Büchlein ist ein Beweis für hohe Freundschaften unter
Toten und immer Lebendigen und ist eine schöne Erinnerung an die
Geburtszeit
der
Republik.
In
keinem
neuen
deutschen
Geschichtsbuch sollte es unerwähnt bleiben. Es ist die rühmlichste
politische Dichterleistung jener Jahre.
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1919 erschien dann auch der »Demian«, und gleich verdarb man
dem Dichter die Freude an seinem Pseudonym. Er hatte das
Pseudonym Emil Sinclair gewählt, weil er der Meinung war, man
dürfe sich, mit dem Beginn einer so einschneidenden Wandlung,
auch einen neuen Namen geben. Den Fontanepreis, der dem
Anfänger Emil Sinclair zugefallen war, Hesse gab ihn zurück. Man
hatte aber nur sein kleineres Geheimnis aufgedeckt; dem größeren
forschte man nicht nach. Ja, es gab Journalisten, die Emil und Upton
Sinclair verwechselten. Niemand verfiel auf den Gedanken, zu
fragen, wer denn nun eigentlich Emil Sinclair sei und warum Hesse
gerade diesen Namen gewählt habe. Wer die Lebensgeschichte des
Dichters Hölderlin kennt, dem kann nicht verborgen sein, wer
Sinclair ist. Um die Mühe des Nachschlagens zu ersparen: Sinclair ist
der innigste Freund und Gönner Hölderlins, und das war Hesse in der
Entstehungszeit seines Buches mehr als je, und so nennt er statt
seines eigenen Namens als Autor Emil Sinclair.
Ja, und da hierbei von Hesses tieferem Alemannentum die Rede ist,
so muß auch von Gottfried Keller noch einmal die Rede sein. Am
10. Juli 1919 feierte man Kellers 100. Geburtstag. Hesse mag in
jenen Tagen oftmals jenes Kellerwort erwogen haben, das etwas
erinnyenhaft lautet: »Wehe einem jeden, der nicht sein Schicksal an
dasjenige der öffentlichen Gemeinschaft bindet!« Wo gab es sie aber
noch, diese öffentliche Gemeinschaft? Die kleine ehrbare
Kantonspolitik und die holdselige Einordnung der Menschen in solche
Gemeinschaft –: mögen sie damals noch möglich gewesen sein;
1919 aber, wen überkam nicht ein irres Gelächter, wenn er das Wort
Gemeinschaft hörte? »Mittlerweile«, so schreibt Hesse in einem
Gedenkblatt, das er ›Seldwyla im Abendrot‹ betitelt, »mittlerweile ist
der europäische Geist zu einem Bankerott gelangt, den wir
verschieden beurteilen, nicht aber wegleugnen können.« Es sei oft
bitter traurig zu sehen, daß Deutschland seit dreißig Jahren keinen
Schriftsteller mehr hatte, dem ein allgemeines Vertrauen, eine echte
Liebe weiter Kreise gelte. »Keller war der letzte.« Und nun galt es
also, Abschied von ihm zu nehmen. »Unsere Zeit ist eine andere,
unser Schicksal ein anderes. Den Glanz der Vollkommenheit über
seinen Werken sehen wir jetzt wie ein Abendrot über einem Tage,
der nicht mehr der unsere ist. Schicksal hat sich inzwischen
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vollzogen, im verbrannten Europa ist Seldwyla zur freundlichen
Kuriosität geworden.«
Dieser kleine Nachruf in der Vossischen Zeitung ist ein
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