Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
so
wird ihm gerade dieses Erschöpfen zur Gefahr und wirft ihn in das
andere Extrem. Aus jedem Tun, das durchrast oder durchlitten wird,
erwachsen neue Klänge, neue Fragen; erwächst ein ganzer
Hydrakopf. Der Zauberwald wird immer dichter, die Pfade
verschlingen sich tiefer. Es ist kaum möglich, diesen Irr- und
Echogarten zu betreten und mit einer brauchbaren Topographie für
Nachfolger wieder hervorzukommen. Welch ein neuer Gegensatz:
Klingsor und Siddhartha! Ist es nicht unter anderem auch der
Gegensatz zwischen Kundy und Parsifal? Wer wird das Spiel
gewinnen, wer unterliegen? Vielleicht aber ist es nicht wichtig, den
Widerstreit auszutragen. Vielleicht ist es wichtiger, den Gegensatz
selbst zu erfassen und ihn zum Erlöschen, – das eigene Ich, das
eigene Selbst, das in dieser doppelten Sohnsgestalt hervorgetreten,
zum Schweigen zu bringen.
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Der »Demian« erfaßte den Muttergrund zuerst. »Klingsor« und
»Siddhartha« sind die beiden Söhne dieser Mutter. Klingsor steht der
Mutter, Siddhartha dem Vater näher. Ein Zwiespalt beherrscht das
Bild des Sohnes, den Hesse in seinen beiden großen Mythenfiguren
vorstellt. Der qualvolle König der Nacht und ein lächelnder Buddha;
ein Verdunkelter und ein Erleuchteter. Sind beide nicht immer noch
Formen der Mythologie und der Tradition, fremde Gestalten? Sind sie
nicht immer noch Wunschbilder des eigenen Selbst? Sind sie nicht
Dichtung und darum Lüge? Wie kann man sich selbst anpacken, sich
selbst auflösen, und damit den Versuch beginnen, sich vom Kreislauf
der Geburten zu lösen?
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Kurgast und Steppenwolf
Die Arbeit der nächsten Jahre ist ganz der Selbsterfassung
zugewandt. Die Aufforderung des Verlags an den Dichter, eine
Auswahl seiner Werke vorzubereiten und sich in einer Vorrede über
die Gesichtspunkte zu äußern, nach welchen diese Auswahl zustande
gekommen sei, diese Ende 1920 erfolgte Aufforderung begegnet
einem innigen Verlangen des Dichters, sein bisheriges Werk zu
überschauen und die weitverzweigten Zusammenhänge auf eine
Einheit hin zu ordnen. Hesse hat damals in einem Feuilleton der
Neuen Zürcher Zeitung über seinen Versuch berichtet. Diese
»Vorrede eines Dichters zu seinen ausgewählten Werken« hat vor
allem ein Moralist geschrieben, der streng auf Wahrheit und
Ausflucht sieht; sodann ein Kunstrichter, der die klassischen Formen
des Romans und der Novelle zugrunde legt. Von beiden
Gesichtspunkten aus fand Hesse sein Werk fragmentarisch und
ungenügend. Das Resultat fiel für den Verlagsplan nicht zustimmend,
sondern ablehnend aus; die volkstümliche, auf vier bis fünf Bände
berechnete Auswahl unterblieb.
Die Anregung des Verlags blieb gleichwohl nicht unfruchtbar. Den
Verzicht scheinen andere als moralische und ästhetische Bedenken
bewirkt zu haben. Hesse war offenbar außerstande, aus der
Verflochtenheit seines Werkes, dessen Betonungen da und dort
hervorgetreten waren, spezielle Schriften auszuwählen. Es war
fraglich, ob er überhaupt nach Direktiven hin sichten könne. Er hatte
ja nicht nach Vorsatz, sondern nach Erlebnissen und nach
Gelegenheiten gearbeitet. Auch fühlte er wohl, daß wesentliche
Seiten seiner Natur noch nicht hervorgetreten, daß ein definitiver
Ausdruck, um den sich alle einzelnen Äußerungen zwanglos
gruppieren ließen, noch nicht erreicht sei. Gleichwohl hatte es
vielleicht jenes Anstoßes bedurft, um den Dichter mit sich selbst zu
konfrontieren; um ihn an die vielen, oft sehr wesentlichen
Gelegenheitsstücke zu erinnern, die zerstreut publiziert und
unbeachtet geblieben waren; um ihm sein Werk nach seiner ganzen
Ausdehnung zu vergegenwärtigen. Die »Ausgewählten Gedichte«
(1921) sind die erste Frucht dieser Rückschau, und es ist interessant
zu sehen, wie Hesse an die Selbsterfassung herangeht. Er beginnt
damit, die Linien zusammenzuziehen und zu vereinfachen.
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Eine zweite Frucht dieser retrospektiven Tätigkeit ist das 1924
zusammengestellte »Bilderbuch«, das nahezu die Form einer
Biographie erhalten hat. Es faßt die vielfachen Wander- und
Reiseerlebnisse des Dichters in einer Art freier, nach inneren
Gesichtspunkten geordneten Chronologie zusammen, beginnend mit
dem Bodensee und endigend im Tessin. Das »Bilderbuch« zeigt eine
vollkommene Einheit der Person von der ersten Gaienhofener Skizze
bis zur letzten aus dem Tessin. Freilich bezieht sich diese Einheit
mehr auf den Beobachter, den Darsteller von Landschaft
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