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Hermanns Bruder - wer war Albert Göring?

Hermanns Bruder - wer war Albert Göring?

Titel: Hermanns Bruder - wer war Albert Göring? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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unvorstellbar schien.
    Zwei Wochen trug ganz Deutschland Trauer. Doch jetzt, drei Monate später, sind all die Emotionen, die in der WM hochgespült wurden, wie weggewischt. Graue Alltagsmonotonie ist an ihre Stelle getreten, ganz so, als sei das »Sommermärchen« nur eine flüchtige Urlaubsaffäre gewesen.
    Vor mir taucht der Berliner Hauptbahnhof auf wie eine gläserne Kathedrale. Hier herrscht der glitzernde Zweckoptimismus neuerer Shoppingmalls; das ganze Gebäude ist eine sonnendurchflutete Ode an Modernität und Geschwindigkeit. Draußen sieht es ähnlich aus. Das raue, geschichtsträchtige Berlin von vor fünf Jahren hat einen neuen, glänzenden Anstrich bekommen. Das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, das Paul-Löbe-Haus und das Kanzleramt, die alle in den Jahrenvor der WM entstanden sind, folgen mit ihren Glasflächen, unregelmäßigen Formen und hoch aufragenden weißen Wänden derselben lauten, grellen Ästhetik. Zeitlosigkeit war bei den Entwürfen offenbar nicht gefragt; Deutschland wollte sich der Welt lieber mutig und dynamisch präsentieren. Das Resultat ist durchaus erfrischend, wirkt aber auch ein bisschen angestrengt.
    Das Ganze erinnert mich an meine Heimatstadt Sydney, die mit den Jahren einen Facelift nach dem anderen verpasst bekommt. Mit jedem neuen Look verwandelt sie sich in die Speerspitze der Avantgarde, doch ein paar Jahre später wirkt die Stadt schon wieder wie ein Relikt aus anderen Zeiten. Dasselbe Phänomen befürchte ich angesichts von Berlins neuestem architektonischem Triumph. Der Versuch, sich neu zu erfinden, könnte genauso schnell vorüber sein wie der Enthusiasmus, die Hoffnung und der Stolz, den die WM mit sich gebracht hat. Macht der Zeitgeist wieder einen seiner Höhenflüge und Abstürze durch wie schon in den 1970er und 90er Jahren? Wie die Begeisterung über die friedlichen, freien Olympischen Sommerspiele 1972 in Entsetzen umschlug, als plötzlich wieder jüdisches Blut auf deutschem Boden vergossen wurde, so folgte auf den Taumel der Wiedervereinigung die Ernüchterung über die verbliebene »Mauer in den Köpfen«.
     
    Endlich ist auch Jack in unserem Hostel angekommen. Er ist ein alter Schulfreund von mir aus Sydney, der sich auf einer Europareise von der Hektik seines Berufslebens als Investmentbanker erholt. Es ist schon zehn Uhr abends, aber er besteht darauf, sich noch in Berlins alternatives Nachtleben zu stürzen. Und die beste Anlaufstelle dafür ist, so versichert er mir, das Kunsthaus Tacheles in Mitte.
    Das »Tacheles« im alten jüdischen Viertel verdankt seine Existenz einer Künstlergruppe, die sich den Zensurmaßnahmen in der DDR widersetzte und sich entsprechend dasjiddische Wort für »Klartext« zum Namen wählte. Das Gebäude war in der Zwischenkriegszeit ein Einkaufszentrum. Zu NS-Zeiten waren darin unter anderem eine SS-Dienst stelle und Zellen für französische Kriegsgefangene untergebracht, und nach der Gründung der DDR übernahm der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund die Verwaltung des Gebäudes. Seit dem Mauerfall hat es sich von einem besetzten Haus zu einem quirligen Komplex mit Galerien und offenen Ateliers, mit Freiluft- und Saalkino und vier Bars weiterentwickelt. Subversive Aktionen, spontane Partys und künstlerische Freiheit haben das Haus zu einer festen Größe in Berlins alternativer Kunstszene gemacht.
    Und Jack und ich sind mittendrin. Der Weg zur Bar führt durch ein von oben bis unten mit Graffiti bedecktes Treppenhaus. Bässe dröhnen, Haschischdunst weht uns entgegen, Anti-Bush-Poster und politische Parolen bedecken jeden Quadratzentimeter Wand. Es ist wie ein Studentenwohnheim auf Speed – alles ist möglich. Wir tasten uns durch dicke Rauchschwaden zum Tresen vor, ergattern zwei Bier und setzen uns in eine freie Ecke, um uns erst einmal zu orientieren. Doch kaum haben wir den ersten Schluck genommen und einen Wo-sind-wir-denn-hier-gelandet-Blick ausgetauscht, als sich eine dunkle Gestalt vor uns aufbaut. Der Mann ist mindestens Ende dreißig und erinnert mit seinen Tunnelpiercings in den Ohren und den hochgesteckten grauen Dreadlocks an den Dude aus
The Big Lebowski.
Er fragt uns auf Englisch, mit starkem deutschem Akzent, ob wir »etwas brauchen«, und klopft sich bedeutungsvoll auf die Tasche. »Nein, danke, uns reicht die Atmosphäre«, stammeln wir wie echte Anfänger. Als sei ihm sein Angebot jetzt peinlich, versichert uns der Dude, er sei gar kein Drogendealer – na ja, in Teilzeit vielleicht –, sondern eigentlich

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