Hermanns Bruder - wer war Albert Göring?
gepflanzt. Es gibt kein Museum, das uns von seinen Taten erzählt. Dieses Eckchen moosbewachsenen Sandsteins ist das einzige Bauwerk, das ihm gewidmet ist.
Das Unwetter hat sich verzogen; es fegt jetzt über das Stadtzentrum hinweg und hinterlässt einen weißblauen Himmel und den frischen Duft nach Regen über demGöring’schen Familiengrab. Über Tannennadeln und nasses Laub trete ich näher heran und stelle fest, dass etwas fehlt. Nirgends findet sich ein Hinweis auf das bekannteste Mitglied der Familie.
Am 15. September 1946 wurde Hermann Görings Leiche am Boden seiner Zelle in Nürnberg gefunden. Manche vertreten die Ansicht, er habe die Kapsel mit Kaliumzyanid, mit der er Selbstmord beging, schon seit seiner Verhaftung in einer Cremedose mit sich geführt; andere haben einen der Wärter als Mithelfer unter Verdacht. Als Hermann Göring zum Tode verurteilt wurde, wollte er wie ein Soldat vor ein Erschießungskommando treten. Dieser Wunsch wurde ihm verweigert. Göring sollte wie seine Mittäter hängen, doch kurz vor dem Termin mit dem Henker spielte er seine letzte Trumpfkarte aus. Sein lebloser Körper, dem ein Auge wie von einem eingefrorenen Zwinkern halb offen stand, wurde in den Exekutionsraum gebracht. Viele verdutzte, rote Gesichter blickten ihm entgegen, und das röteste gehörte Colonel Burton C. Andrus, dem Gefängniskommandanten, der so stolz auf seine umfassenden Vorbeugungsmaßnahmen gegen Selbstmord gewesen war. Noch im Tod hatte Hermann Göring einen Volltreffer gelandet. Dann, kurz nach Mitternacht, wurde Görings Leiche zusammen mit denen anderer NS-Größen in ein Münchener Krematorium gebracht. Seine Asche wurde am selben Tag in den kaum drei Meter breiten Conwentzbach 255 gestreut. Von dort floss sie in die Isar, durch Münchens Innenstadt und den Englischen Garten, ostwärts durch das ländliche Bayern, bis sie vielleicht in die Donau gespült und von ihr durch Wien und Bratislava, Budapest und Belgrad ins Schwarze Meer getragen wurde.
Ich beuge mich zu der grün angelaufenen kupfernen Grabplatte hinunter, die mit kreuzförmigen Messingbolzen verankert ist, und kratze ein wenig Schmutz beiseite. Nach und nach kommt das eingravierte Porträt eines Soldatenmit Tropenhelm und Gewehr zum Vorschein. Das muss der Reichskommissar Heinrich Göring sein, wie er im Namen des Kaisers die Grenzen Deutsch-Südwestafrikas erweiterte. Sein Abbild wird zu beiden Seiten von einer kaum mehr leserlichen Inschrift flankiert, die in Fraktur das Familienmotto der Görings zum Ausdruck bringt. Links ist zu lesen: »Wir sind nicht von denen, die da weichen«, und rechts steht: »sondern von denen, die da glauben.«
Bei diesem Anblick verstehe ich unmittelbar, warum Albert und Hermann Göring, als sie beim Begräbnis ihres Vaters vor eben diesem Grabmal standen, Tränen der Reue in die Augen traten. Zu spät erkannten sie, was für ein großer Mann ihr Vater gewesen war. Auch sie wollten die Tradition ihrer Vorväter würdig vertreten. Sie wollten der Stolz ihres Vaters und ihrer Familie sein. Und gingen dabei so unterschiedliche Wege: Hermanns endete in einem schlammigen Rinnsal in München, während Alberts Weg zu diesem Grabmal zurückführte und sich in die Leben derer einschrieb, denen er begegnete – auch in meins.
Albert Görings Selbstlosigkeit und der Mut, den er in finsteren Zeiten bewies, haben wenig Anerkennung erfahren; es gibt keine Orden und Auszeichnungen in seinem Namen. Ganz im Gegenteil, seine Taten wurden zur bloßen Fußnote in der Lebensgeschichte seines Bruders degradiert. Wer sich jedoch die Mühe macht, den Wegen zu folgen, die er uns aufgezeigt hat, und die Lebensgeschichten derer nachzuzeichnen, denen er half, entdeckt die Umrisse eines eindrucksvollen, wenn auch ungewöhnlichen Familienstammbaums. Seine Verästelungen sind nicht durch Erblinien verbunden, sondern durch das Wirken eines Menschen, der das Überleben der Familienmitglieder sicherstellte: Albert Göring. Auf meiner Reise habe ich Ärzte und Regisseure kennengelernt, Wissenschaftler und Politiker, Geschäftsgründer und Musiker, Adlige und Universitätsprofessoren, die alle mit Albert in Berührung gekommen sind.
Zu Lebzeiten wurde Albert Göring als Außenseiter abgestempelt, als Nationalsozialist, Frauenheld, Kriegsverbrecher und Lebemann, doch die Nachwelt sieht ihn anders: als Patriarchen einer weltumspannenden Familie, die aus hunderten Überlebenden und ihren Nachfahren besteht. Allmählich begreife ich, dass
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