Hermanns Bruder - wer war Albert Göring?
Schläfen der nächstbesten Arbeiter, um ein Geständnis zu erzwingen. »Bam! Bam! Bam! Und sie drückten ab!«, ruft Jorge mit bebender Stimme. Männer sackten blutend an ihrer Werkbank zu Boden, die erstickten Schreie ihrer Kollegen erfüllten die Luft, und die Gestapo arbeitete sich von einer Gruppe zur nächsten vor, um einen Verrat zu erzwingen. »Ich weiß nicht, wie viele die Gestapo getötet hat«, fährt Jorge fort. »Er [ Jorges Vater] hat jedenfalls gesagt: ›Ich hatte Glück, dass ich im Krankenhaus war. Wenn ich da gewesen wäre, wer weiß …‹«
Bevor die »jüdische Frage« mit klinischer Präzision und Effizienz beantwortet wurde, bevor im Osten Europas die Ghettos brutal geräumt und ihre Bewohner in Vernichtungslager deportiert wurden, vor jener berüchtigten Konferenz in Wannsee am 20. Januar 1942, wo hochrangige Parteifunktionäre unter dem Vorsitz Reinhard Heydrichs die »Endlösung« ausarbeiteten, war der Krieg des Dritten Reiches gegen Europas jüdische Bevölkerung eine eher rohe, primitive Angelegenheit. Hauptakteure waren die sogenannten Einsatzgruppen, die im Gefolge der Wehrmacht ostwärts zogen. Diese je nach den Umständen aus Mitgliedern der Ordnungspolizei, SS, Gestapo, SD, Kriminalpolizei und aus vor Ort rekrutierten Helfern zusammengesetzten Verbände durchforsteten die Siedlungen nach Juden, Kommunisten und potentiellen Widerstandskämpfern, trieben sie zusammen und ermordeten sie. Die dabei bevorzugte Methode bestand darin, ihre Opfer außerhalb des Orts in einen Wald zu treiben, sie dort ihr eigenes Massengrab schaufelnzu lassen und sie mit Maschinengewehrsalven hinzurichten. Wenn Letzteres zu kostspielig erschien, wurden die Todgeweihten hintereinander aufgereiht und mit einzelnen Schüssen aus großkalibrigen Waffen niedergestreckt.
Diese Kommandos gingen unter so strenger Geheimhaltung vor, dass selbst Albert Göring, der so viel von den Aktivitäten des Dritten Reichs wusste, erst Jahre nach dem ersten Einsatz dieser Methoden davon erfuhr. Die Information wurde ihm im Sommer 1942 von unerwarteter Seite zugespielt: von Dr. Max Winkler, dem Assistenten von Alberts Erzfeind innerhalb der Škoda-Werke, Dr. Wilhelm Voss. Winkler war gerade aus Polen zurückgekehrt und bat Albert um ein Gespräch, da er sehr gut wusste, dass sich dieser für die Vorgänge interessieren und womöglich dagegen vorgehen würde. Er erzählte Albert, man habe ihm berichtet, wie »ganze Zugladungen voller Juden, Männer, Frauen und Kinder, Alt und Jung« in die Berge verschleppt und mit Maschinengewehren massakriert worden seien. 153 Albert hatte in Wien und Prag schon einige Gräueltaten seiner Landsleute mit ansehen müssen, doch als er dies hörte, wurde ihm bei der Vorstellung, gebildete, kultivierte und intelligente Menschen könnten sich derart unmenschlich verhalten, körperlich schlecht.
Dieser erste Eindruck des Holocaust ließ Albert nicht mehr los. Er schrieb einen Bericht an seinen Bruder, der alles enthielt, was er soeben erfahren hatte, ohne jedoch seine Informationsquelle beim Namen zu nennen. »Ich konnte meinen Bruder an dem Tag nicht erreichen«, gab er später in Nürnberg zu Protokoll. »Also schrieb ich einen Bericht an das Luftfahrtministerium und bat darum, ihn an meinen Bruder weiterzuleiten. Als ich später noch einmal dort vorbeikam, fragte ich, was aus dem Bericht geworden sei, und bekam zur Antwort, man habe ihn an die zuständige Stelle weitergeleitet, womit in meinen Augen nur Himmler gemeint sein konnte, und damit schloss sich der Teufelskreis.Anders gesagt, war die Angelegenheit da gelandet, wo das Morden seinen Ausgang genommen hatte.« 154 Damit hatte Albert nicht nur Hermann Görings schärfstem Konkurrenten unschätzbar wertvolle Munition geliefert, sondern sich den zweiten Gestapo-Haftbefehl eingehandelt. Zu der Zeit begann mit den vielen Rückschlägen der Luftwaffe Hitlers Vertrauen in Hermann Göring bereits abzunehmen, doch der Bruder kam Albert zu Hilfe und ließ den Haftbefehl annullieren.
Albert war der Gestapo schon lange ein Dorn im Auge gewesen, doch jetzt wurde er zum Staatsfeind erklärt, den man ständig überwachen musste. Jede seiner Bewegungen wurde dokumentiert, und auf jeden Fehltritt folgten Versuche, ihn abzustrafen. Der Prager Gestapo war längst bekannt, dass Albert Göring für die von ihnen Verfolgten der erste Ansprechpartner war. Das erfuhr Albert, als Hermann Göring ihn mit einem ihrer Berichte konfrontierte. Darin hieß es,
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