Hermanns Bruder - wer war Albert Göring?
ein Künstler. Er komme nur gelegentlich hierher, um den üblichen Backpackern seine kleine Auswahl an Halluzinogenen anzubieten. »Leichte Beute«, sagt er.
Übliche Backpacker? Das klingt wie ein Alarmsignal. Trotz seines künstlerischen, alternativen Anspruchs scheint das Tacheles auf der Kippe zur Touristenabsteige zu sein, oder noch schlimmer, ein Motor der Gentrifizierung. Die echte Subkultur findet offenbar längst anderswo statt.
Unser Dude hat inzwischen beschlossen, uns unter die Fittiche zu nehmen, und fragt, was wir hier in Deutschland machen. Ich antworte, dass ich in Deutschland lebe, und erzähle von meinen Eindrücken von der Achterbahnfahrt der Gefühle während der WM und von der depressiven Stimmung, die seither herrscht.
»Keine Sorge, das wird schon wieder!«, sagt er. »Nimm zum Beispiel das Haus hier. Es ist schon alles Mögliche gewesen. Es hat eine Menge Achterbahnfahrten hinter sich, wie du es nennst.
Aber weißt du
«, einen Moment lang rutscht er ins Deutsche und fängt sich gleich wieder, »es ist immer dasselbe Gebäude, dasselbe Fundament, derselbe
Geist.
In den Neunzigern wollten sie es abreißen, weil es hieß, es wäre nicht sicher oder so ’n Scheiß. Aber die Künstler haben ein neues Gutachten machen lassen, und wisst ihr was? Das Ding ist grundsolide.« Tja, das ist wohl Ansichtssache.
13. Wieder ein anderer
Aus dem Bus steigt eine sonntäglich gekleidete ältere Dame mit einem Wildblumenstrauß im Arm. Langsam und gebeugt trippelt sie durch das Tor des Münchener Waldfriedhofs. Ich konsultiere meinen Lageplan, und als ich wieder aufblicke, ist sie im Gehölz verschwunden. Ich folge dem Kiesweg, doch kaum habe ich die ersten Schritte getan, öffnet der Himmel seine Schleusen. Unter dem Dach einer Roteiche suche ich Schutz vor dem herabprasselnden Regen. Ihre alten Äste knarren und ächzen im Wind, und durch ihre Blätter rauscht ein Strom dunkler Erinnerungen und Phantasien.
Eine halbe Ewigkeit bleibe ich in diesem unheimlichen Szenario gefangen, bis der Regen ebenso schlagartig nachlässt und ich meinen Weg in den Wald fortsetzen kann. Unter seinem grünen Dach weicht meine Anspannung allmählich einem Gefühl der Geborgenheit und Ruhe. Leises Vogelgezwitscher ist zu hören. Steinerne Engel wachen über jeden meiner Schritte. Langsam erschließt sich mir die Schönheit dieses Ortes.
Der Waldfriedhof in einem Münchener Außenbezirk, einer der ersten seiner Art weltweit, ist nicht nach dem üblichen Schema aufgebaut. Statt effizient gerasterter Grabstellen gibt es hier labyrinthische Parkwege und Orte der Ruhe. Grabsteine und Gruften fügen sich organisch in die Landschaft ein, wie auch der Tod unauflöslich Teil der Natur ist. Dieser Ort gehört ebenso sehr den Lebenden wie den Toten.
Der Kiesweg führt mich zu einem kleinen, mit einer Sandsteinmauer abgegrenzten Familiengrab. Unter einem Mauervorsprung hängt, wie in vielen bayerischen Haushalten,ein Kruzifix. In Frakturschrift ist der Name Dr. Heinrich Ernst Göring, »kaiserlich deutscher Ministerresident«, in den Stein gemeißelt; direkt darunter steht seine Frau Franziska Göring, geborene Tiefenbrunn. Und ganz unten am Fuß des Grabsteins entdecke ich schließlich ihren Sohn: Albert Göring, Ingenieur, geboren am 9. März 1895, gestorben am 20. Dezember 1966. Nirgendwo sonst kann ich ihm so nahe sein, dem Mann, den ich nie kennenlernen durfte und doch so gut kenne.
Ich bin hierhergekommen, um ihm meine Reverenz zu erweisen und um Lebewohl zu sagen. Drei Jahre lang bin ich mit ihm um die Welt gereist, als Schüler, der den Spuren seines Lehrers folgt. Mit ihm habe ich verrauchte Cabarett-Klubs und Künstlercafés kennengelernt. Er hat mit mir im Zentrum einer aufgebrachten Wiener Menschenmenge am Boden gekniet und für die alten jüdischen Frauen das Pflaster geschrubbt. Ich habe seine ungläubige Wut erlebt, als seine zivilisierten Mitmenschen zu Schlägern und Verbrechern wurden, Hermanns Büro vor mir gesehen, in dem über Leben und Tod entschieden wurde. Alberts angstverzerrtes Gesicht, wenn ihm die Gestapo auf den Fersen war. Seine Zigarettenspitze und seine Filmstarqualitäten. Und seine Liebe zum Kaffee – der Duft einer guten, starken Tasse Kaffee wird mich mein Leben lang an Albert Göring erinnern.
Dennoch kommt es mir falsch und ungerecht vor, dass es nur diesen einen Erinnerungsort für Albert Göring gibt. Anders als für Oskar Schindler und Raoul Wallenberg wurde für ihn kein Baum in Yad Vashem
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