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Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Titel: Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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»Zungenspitze hinter die Zähne oben. Siehst du?« Es war ein Mund, der aussah wie gezeichnet: ganz fein, mit schmalen Lippen und perlweißen, makellosen Zähnen.
    »Ich weiß«, erwiderte er. Im Englischunterricht hatten sie das geübt. Seine Mutter konnte es, hatte es ihn ebenfalls üben lassen. »Char…lotte.« Es fühlte sich seltsam an im Mund, aber er schien es richtig gemacht zu haben, denn sie nickte lächelnd und setzte den Weg die Treppe hinauf fort.
    »Yumiko hat mir das erklärt«, sagte sie dabei. »Dass für Japaner das r und das l gleich klingen.«
    »Wer ist Yumiko?«, fragte er.
    »Mein Kindermädchen«, lautete die Antwort. »Sie ist ganz nett. Sie geht manchmal mit mir raus, zeigt mir Sachen und so.«
    »Was für Sachen?«
    »Na, die Stadt. Tokio. Ich kann ja nicht alleine raus. Ich kann nämlich Japanisch nicht lesen, ehrlich gesagt.«
    Sie hatten den obersten Treppenabsatz erreicht. Ein langer Flur erstreckte sich nach links und rechts, mit noch mehr gerahmten Bildern an den Wänden und dicken gemusterten Teppichen. Es sah wirklich aus wie ein Museum.
    »Meiner Mutter ist das gar nicht recht«, fuhr Charlotte fort und wandte sich nach rechts. »Solche Ausflüge, meine ich. Wenn’s nach der ginge, müsste ich die ganze Zeit drinnen bleiben. Oder im Garten halt.«
    »Das muss langweilig sein«, meinte Hiroshi.
    »Ist es auch.« Charlotte öffnete eine Tür. »So, das ist mein Zimmer.«
    Es war riesig, und es war vollgestopft mit lauter Spielsachen, ordentlich auf Regalen und in Schränken aufgestellt: Puppen, Stofftiere, aber auch Malstifte, Bücher und Modellautos. In einer Ecke stand ein enormes Himmelbett und unter dem Fenster ein Schreibtisch, auf dem Schulhefte und Schreibzeug lagen.
    Hiroshi sah sofort, dass er richtig vermutet hatte: Dies war das Zimmer, hinter dessen Fenstern er ab und zu Bewegungen gesehen hatte. Er hatte es sich schon gedacht, während sie durch das Haus gegangen waren und er gemerkt hatte, dass sie sich in diese Richtung bewegten.
    »Und das ist der Spielplatz.« Charlotte zog ihn zum Fenster. Auf einem Platz unter den Bäumen standen eine Schaukel und ein Klettergerüst. »Da war auch ein Sandkasten, als wir angekommen sind, aber den hat meine Mutter wegräumen lassen, weil ich schon zu groß dafür bin.«
    Hiroshi kannte den Spielplatz, aber das ließ er sich nicht anmerken. Von ihrer Wohnung aus war er nicht zu sehen; er hatte ihn bei seinen heimlichen Streifzügen durch das Botschaftsgelände entdeckt. »Ihr habt einen großen Garten.«
    »In Delhi hatten wir ein Haus mit einem noch größeren Garten«, behauptete sie. »Nicht so schön gepflegt wie der hier, aber es gab dort Affen, stell dir vor! Einmal ist einer durchs Fenster in mein Zimmer gekommen und hat mir ein Schulheft geklaut.«
    »Affen?« Hiroshi staunte. Er wusste gerade nicht, wo dieses Delhi lag – in Indien oder so, konnte das sein? –, aber auf jeden Fall war das Mädchen schon ganz schön in der Welt herumgekommen. Das machte ihn beinahe neidisch. »Das kann dir hier nicht passieren.«
    »Ach, eigentlich war es lustig. Außerdem war es mein Matheheft. Um das war es nicht schade«, gluckste sie. Es gefiel ihm, wenn sie lachte.
    »In welche Schule gehst du eigentlich?«, fragte er. Wenn sie kein Japanisch lesen konnte, ging sie ja wohl kaum in eine normale Schule.
    Das brachte das Lachen zum Verschwinden. Sie seufzte. »Ingar keine. Ich habe einen Hauslehrer, der mich unterrichtet. Er kommt aus Paris. Meine Mutter sagt, das ist, damit ich dieselben Sachen lerne, die ich zu Hause lernen würde. Aber ich hätte lieber Klassenkameraden.«
    Hiroshi wusste, dass sie aus einem Land kam, das Frankreich hieß und in Europa lag. Er hatte im Atlas nachgesehen, wo das lag, aber es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, wie es dort aussah und wie es sein mochte, dort zu leben.
    Er dachte an die Mitschüler in seiner Klasse und wie gern sie ihn piesackten, weil er der Kleinste war. »So toll ist das auch nicht immer«, meinte er.
    »In Delhi bin ich auf die Internationale Schule gegangen«, erzählte Charlotte. »Da hatte ich eine beste Freundin, Brenda.« Sie hielt inne. Hiroshi merkte, dass es ihr wehtat, daran zu denken. »Wir haben ausgemacht, uns zu schreiben, aber sie hat mir nie geantwortet.«
    »Das ist schade«, meinte er.
    Sie nickte. »Ja. Das kommt daher, dass mein Vater Botschafter von Beruf ist. Deswegen muss er alle paar Jahre in ein anderes Land ziehen, und wir müssen natürlich mit. Ich war

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