Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
hätte sich natürlich beklagen können, dass sie – abgesehen von ein paar Straßen rund um die Botschaft und ein paar Kaufhäusern – von Japan bisher so gut wie nichts zu sehen bekommen hatte und deswegen eigentlich fast nichts dazu sagen konnte, aber so etwas sagte man nicht auf einem Empfang, wo alle höflich zueinander waren. Bei einem solchen Anlass sagte man einander nur angenehme Dinge. Das war die Kunst der Diplomatie. Also fuhr sie fort: »Wir werden demnächst ein Museum besuchen, das ›Insel der Heiligen‹ heißt. Darauf freue ich mich schon sehr. Das wird bestimmt interessant.«
Der Russe hob die buschigen Augenbrauen. »Tatsächlich? Schön. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich von diesem Museum noch nie etwas gehört habe.«
»Es ist eigentlich nicht ein Museum im strengen Sinne«, warf Papa erklärend ein. »Es handelt sich um einen Shinto-Schrein nördlich von Tokio, der einmal im Monat für Besucher geöffnet wird. Wobei diese Insel nur ein winziges Gebilde innerhalb eines künstlichen Sees ist, kaum größer als eine Tischplatte. Aber es soll ziemlich hübsch sein. Typisch japanisch eben.«
»Man lernt nie aus«, meinte Jegorow. »Dabei dachte ich, ich hätte meinen Reiseführer gründlich studiert.«
Papa schmunzelte. »Sie brauchen sich keinen Vorwurf zu machen, Michail Andrejewitsch. Ich glaube, dass auch die meisten Japaner von diesem Schrein noch nie gehört haben. Charlottes Kindermädchen stammt aus dieser Gegend, von ihr haben wir davon erfahren. Der Name ist Seitou-Jinjya.«
»Das Wort jinjya heißt Schrein und seitou ›heilige Insel‹ oder ›Insel der Heiligen‹«, erklärte Charlotte.
»Sieh an.« Jegorow nickte wohlwollend. »Und was gibt es da zu sehen?«
»Alte Sachen!«, entfuhr es Charlotte. Im nächsten Moment hielt sie erschrocken den Atem an. Nicht dass die Begeisterung mit ihr durchging! So etwas gehörte sich nicht.
»Alte Sachen? Die interessieren dich?«
»Ja, und wie!«
»Der Schrein«, meinte Papa, »soll einige Artefakte beherbergen, die angeblich zu den ältesten Japans gehören. Ein Schwert, das dem allerersten Kaiser gehört hat, zum Beispiel.« Er lächelte. »Man fragt sich bei solchen Behauptungen natürlich immer, ob sie stimmen. Ich weiß nicht, wie viele Schwerter der allererste Kaiser besessen hat, aber es müssen eine ganze Menge gewesen sein, wenn noch so viele davon übrig sind.«
Der russische Botschafter lachte auf, dass sein Bauch unter dem Smoking wackelte. »Ja, wir in Russland haben dasselbe Problem mit Reliquien. Manche Heiligen scheinen zwanzig Finger besessen zu haben und hundert Zähne.« Er blickte auf Charlotte herab. »Das willst du dir also ansehen?«
Charlotte nickte. »Ja, zusammen mit meinem neuen Freund.«
Der Russe zwinkerte ihr zu. »So, du hast also schon einen Freund? Wie heißt er denn?«
»Hiroshi«, gab Charlotte bereitwillig Auskunft. »Seine Mutter arbeitet in unserer Wäscherei, und er hat meine Puppe … gefunden.«
Puh! Um ein Haar hätte sie sich vor lauter Begeisterung verplappert. Sie hatte sich gerade noch rechtzeitig beherrscht. Das war wichtig, wenn man eine Dame sein wollte. Maman hatte ihr das beigebracht. Man musste sich jederzeit beherrschen, und vor allem musste man sich immer gut überlegen, was man sagte und was nicht.Am späten Abend, als der Empfang vorüber war und sie beide nebeneinander im Badezimmer standen, sagte Jean-Arnaud Malroux, Botschafter der Republik Frankreich, Offizier der Ehrenlegion und Autor mehrerer Bücher über Außenpolitik und die Rolle Frankreichs in der Welt, zu seiner Gattin Cécile Malroux, geborene Comtesse de Vaniteuil: »Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie schnell und leicht unsere Tochter fremde Sprachen lernt. Hast du mitbekommen, wie sie sich mit dem japanischen Bildungsminister unterhalten hat? Er konnte sich beim Abschied kaum darüber beruhigen.«
Seine Frau rieb sich gerade mit einem getränkten Wattebausch das Make-up von der Stirn. »Charlotte lernt keine Sprachen«, sagte sie. »Sie atmet sie ein . Ich weiß nicht, von wem sie das hat. Von mir bestimmt nicht.«
Der Botschafter fuhr sich mit der Bürste durch die Haare; eine denkbar unnütze Verrichtung vor dem Schlafengehen, aber er war es so gewohnt. »Nun ja. Ich glaube nicht, dass es damit eine mystische Bewandtnis hat. Kinder tun sich nun mal leichter damit, Sprachen zu lernen; das ist ganz natürlich. Es verblüfft einen nur immer wieder aufs Neue, wenn man es mitbekommt.« Er betrachtete
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