Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
gerade nicht anders ginge.
Auf ihrer anderen Seite saß eine junge russische Dame, die, wie Charlotte irgendwann verdutzt feststellte, erstaunliche Ähnlichkeit mit der Puppe hatte, die jetzt Valérie hieß. Sie hieß allerdingsnicht Valérie, sondern Oksana und sprach kein Japanisch, nur Englisch, und das nicht besonders gut. Charlotte bat sie, ihr ein paar Worte und Sätze auf Russisch beizubringen, und stellte fest, dass die Sprache ihr gefiel.
»Vielleicht wird mein Papa mal nach Russland versetzt«, sagte sie. »Dann werde ich Russisch lernen.«
Oksana lächelte. »Das wird dir leichtfallen, glaube ich.« Der Bildungsminister stimmte ihr mit heftigem Nicken bei.
Nach dem Essen ging man hinüber in den Gelben Salon. Die Männer versammelten sich in der einen Hälfte, wo sie rauchten und Whisky oder Pastis tranken. Die Frauen machten es sich in der anderen Hälfte, der mit den Sitzgelegenheiten, bequem, schlürften Likör und plauderten.
Charlotte musste noch nicht ins Bett: Das gehörte zu den Bedingungen. Wenn sie sich wie eine feine Dame benahm, dann durfte sie an einem solchen Abend aufbleiben, so lange sie wollte. Und im langen Aufbleiben hatte sie mittlerweile viel Übung.
Das einzig Blöde war, dass man von ihr erwartete, ebenfalls im Frauenteil des Salons zu bleiben. Dabei interessierte sie das, was die Männer redeten, viel mehr als die Unterhaltungen der Frauen. Die diskutierten am liebsten über »gesellschaftliche Entwicklungen« – was das war, wusste Charlotte nicht, auf jeden Fall war es etwas Besorgniserregendes. Oder sie plauderten über Maler, die irgendwo aufsehenerregende Ausstellungen gehabt hatten, und ähnliches Zeug. Heute Abend ging es um einen Roman, den ein amerikanischer Schriftsteller namens Michael Crichton geschrieben hatte und in dem Japan offenbar schlecht wegkam. Alle waren sich einig, dass es sich nicht gehörte, derartige Romane zu schreiben. Was Charlotte nicht verstand, war, wieso man sich dann noch weiter darüber unterhalten musste.
Sie schlenderte zur Bar, die in der Mitte des Salons aufgebaut war, und ließ sich eine weitere Cola geben. Wenn man viel Cola trank, fiel es einem leichter, lange aufzubleiben, hatte sie herausgefunden.
Nicht weit von der Bar entfernt stand Papa mit dem russischen Botschafter zusammen, dem Ehrengast des Abends. Sie unterhielten sich angeregt. Michail Andrejewitsch Jegorow sprach fließend Französisch, mit einem bezaubernden russischen Akzent, der wie Musik klang. Er erzählte Papa gerade lebhaft von einer Insel, die er »Insel des Teufels« nannte.
Es klang rasend interessant. Charlotte beschloss, auf die Sitten zu pfeifen und einfach mal hinüberzugehen.
Den ganzen Tag über hatte seine Mutter nichts gesagt, aber Hiroshi hatte trotzdem gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Es war nicht schwer zu erraten, dass es um das ging, was sich heute Morgen in der Botschaft abgespielt hatte.
Doch erst beim Abendessen rückte sie endlich damit heraus. Dass er das Mädchen in Ruhe lassen solle. Es könne nichts Gutes daraus entstehen. Das seien reiche Leute, und von reichen Leuten müsse man sich fernhalten.
»Wieso eigentlich?«, fragte Hiroshi.
Seine Mutter sah ihn nicht an. Ihr Blick ging ins Leere, schien etwas zu sehen, von dem er keine Ahnung hatte. Nichts Gutes auf jeden Fall.
»Für die sind wir nichts«, sagte sie schließlich bitter. »Leute wie wir sind für die unwichtig. Sie müssen keine Rücksicht auf uns nehmen, und sie nehmen auch keine.«
Hiroshi dachte darüber nach, und auch darüber, wie es gewesen war, mit dem Mädchen zusammen zu sein. Charlotte . Ohne einen Laut von sich zu geben, übte er im Mund das r und das l.
»Ich fand sie nett«, sagte er dann einfach.
Jetzt sah ihn seine Mutter an, musterte ihn lange wie einen Fremden und meinte schließlich: »Du wirst schon sehen, was du davon hast. Glaub mir.«
Der russische Gesandte unterbrach seine Erzählung, als Charlotte näher kam, verneigte sich mit einem breiten, begeistertenLächeln und sagte: »Ah, die junge Dame gibt uns die Ehre. Mademoiselle Charlotte!«
Sie mochte es, wie er Charlotte sagte, mit diesem russisch-rollenden r. »Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte sie höflich, wie es ihr Maman beigebracht hatte, dass es sich für eine Dame gehörte.
Jegorow richtete sich wieder auf und lachte lauthals. »Nein«, meinte er dann. »Nein, du störst uns nicht. Im Gegenteil! Erzähl mir doch, wie gefällt es dir in Japan?«
»Gut«, antwortete Charlotte. Sie
Weitere Kostenlose Bücher