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Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Titel: Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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schon in Indien, davor im Kongo, und als ich ganz klein war, haben wir in San Francisco gelebt.« Charlotte musterte ihn. »Was ist dein Vater von Beruf?«
    Hiroshi zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich kenn ihn gar nicht. Ich weiß nur, dass er Amerikaner ist.«
    »Hast du ihn noch nie gesehen?«
    »Nein.«
    »Hast du wenigstens ein Foto von ihm?«
    Hiroshi nickte. »Zu Hause.«
    »Das musst du mir mal zeigen.« Sie nahm ein gerahmtes Bild von ihrem Schreibtisch, das sie mit ihrer Familie zeigte. Ihr Vater hatte hellbraunes, leicht gewelltes Haar und lächelte amüsiert, beinahe spöttisch. »Das ist vor dem Haus, in dem wir in Delhi gewohnt haben.« Sie deutete auf den Hintergrund, in dem Palmen und graue Bäume mit seltsam ineinander verschlungenenÄsten zu sehen waren. »Das war der Garten. Leider sieht man auf dem Foto keine Affen.«
    »In Delhi scheint es dir besser gefallen zu haben als hier«, meinte Hiroshi.
    »Ich mag es bloß nicht, dass ich immer allein bin.« Sie huschte an ihr Regal und holte unter all den anderen die Puppe heraus, die Hiroshi repariert hatte. »Wie hast du das überhaupt gemacht? Die war doch total kaputt!«
    Hiroshi zuckte mit den Schultern. »Ich hab eine Menge Werkzeug. Ich hab’s halt probiert.«
    »Richtiges Werkzeug?«
    »Ja. Wenn ich Geburtstag hab, wünsch ich mir immer Werkzeug. Zu Weihnachten auch. Ich bau lieber Sachen, als welche zu kaufen.« Dass er außerdem meistens nicht das Geld dafür hatte, wollte er irgendwie nicht erzählen.
    Charlotte betrachtete die Puppe nachdenklich. »Komisch. Vorher mochte ich die Puppe gar nicht, aber jetzt ist sie was Besonderes. Ich glaube, ich nenn sie von nun an Valérie.« Sie wiederholte den Namen, als ließe sie sich etwas Zartes, Schmelzendes auf der Zunge zergehen. »Valérie. Ja, das ist ihr Name.«
    Sie ging wieder an ihr Regal und setzte die Puppe sorgsam an genau den Platz zurück, an dem sie vorher gesessen hatte.
    »Wir können heute leider nicht richtig spielen, weil meine Eltern heute Abend einen Empfang geben«, erklärte sie dann. »Da muss ich auch dabei sein. Ich muss noch duschen und mich frisieren und herrichten lassen und so. Das dauert immer ewig! «
    »Aha«, sagte Hiroshi. Er wusste nicht genau, was er sich unter einem Empfang vorstellen sollte. Das war wohl eines von den Dingen, die reiche Leute so machten. »Schade.«
    »Aber du kannst mich ja besuchen kommen«, schlug sie vor. »Wenn du magst. Dann könnten wir in aller Ruhe miteinander spielen. Auch draußen im Garten.«
    Hiroshi nickte. »Ja, okay.«
    »Morgen Nachmittag vielleicht? Um drei Uhr?«
    »Okay«, sagte Hiroshi.
    Alles in allem, sagte sich Charlotte abends, war es ein guter Tag gewesen. Auch der Empfang war im Grunde eine tolle Sache. Die Vorbereitungen nicht, klar. Das stundenlange Waschen, Föhnen und Frisieren, das Ausprobieren von Kleidern, das nie ein Ende zu nehmen schien – das war alles entsetzlich nervig. Aber der Empfang selber war immer großartig: Alle waren vornehm gekleidet, unterhielten sich gesittet, man saß an einer festlich gedeckten Tafel und bekam tolle Sachen zu essen …
    Die Gäste waren regelmäßig entzückt, wenn sich ein zehnjähriges Mädchen benehmen konnte wie eine feine Dame. Charlotte musste insgeheim immer grinsen, wenn sie das mitbekam. Als ob das so schwierig gewesen wäre! Man musste doch einfach nur fein tun, viel »bitte« und »danke« und »nein, wie interessant« sagen, musste wissen, wann man welches Besteck verwendete (auch einfach: Es ging immer von außen nach innen), durfte nichts verschütten – das war es im Wesentlichen schon. Ja, und man musste natürlich genauso lange ruhig auf seinem Stuhl sitzen bleiben wie die Erwachsenen. Das war eigentlich das Anstrengendste an der ganzen Sache.
    Heute Abend benahm sich Charlotte besonders mustergültig, weil sie wusste, dass das ihre Mutter glücklich machen würde. Und sie wollte, dass Mutter glücklich war, denn sie selber war es auch, weil sie jetzt einen Freund gefunden hatte, und das verdankte sie ihrer Mutter: Hätte die Hiroshi und seine Mutter nicht eingeladen, wäre es nicht dazu gekommen.
    Sie saß neben einem vornehmen älteren Japaner, der sich ungemein freute, mit ihr auf Japanisch sprechen zu können. Es stellte sich heraus, dass er sogar der Bildungsminister von ganz Japan war. Charlotte erklärte ihm, dass sie viel lieber auf eine richtige Schule gehen und Klassenkameraden haben würde als privaten Unterricht, dass es aber leider

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