Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
Vergleich mit den Videoaufnahmen sehen, dass es vor Versuchsbeginn eingetroffen ist.«
Hiroshi faltete das Blatt sorgsam zusammen. »Kein Problem. Stell die Systemuhren sämtlicher Rechner um eine Stunde zurück.Die Uhr der Videoanlage auch. Wir starten das Experiment in fünfzig Minuten.«
2
Von einem Moment zum anderen brach hektische Geschäftigkeit los.
Miroslav hockte sich, nachdem er rasch ein Hemd und eine kurze Hose übergezogen hatte, vor die Computer und fummelte emsig daran herum. Gleich darauf trudelten die anderen ein, junge Menschen aus aller Welt, in der Mehrzahl Asiaten, mit nassen Haaren, sandigen Armen und geröteter Haut. Die meisten von ihnen hatte Charlotte noch nicht einmal gesehen, geschweige denn kennengelernt. Sie grüßten – beiläufig manche, andere neugierig, aber scheu – und machten sich dann an die Arbeit, spürbar aufgeregt, dass es endlich losging.
Hiroshi tauchte wieder auf. Er war im Büro gewesen, um die Reise zu organisieren und eine Nachricht an Hongkong zu formulieren, die seine Ankunft ankündigte und ansonsten vage blieb. »Wie sieht’s aus?«, wollte er von Miroslav wissen.
»Der Server noch«, sagte der, ohne aufzusehen, »dann kann’s losgehen.«
Es war beeindruckend, mit welchem Elan und mit welcher Begeisterung Hiroshis Team loslegte. Man meinte zu spüren, dass jedem von ihnen bewusst war, dass sie vielleicht im Begriff standen, Geschichte zu schreiben. Die Stimmung bei der Mondlandung konnte nicht viel anders gewesen sein.
Und sie? Charlotte verschränkte die Arme, dachte an ihren eigenen Kindheitstraum. Paläoanthropologie. Die erste Menschheit. Was war daraus geworden? Nichts. Anders als Hiroshi hatte sie keinen Traum mehr, keine Vision, der sie folgte.
Die Werktische bildeten innerhalb des Zeltes ein U. An der Seite, an der keine Tische standen, begannen zwei der Frauen, die Zeltplane zu entfernen. Charlotte sah zu, wie sie sie sorgfältignach links und rechts einrollten und mit Schlaufen an den Eckstangen festschnallten, dann glitt ihr Blick hinaus, über die Landschaft.
Ihr bot sich ein so unerwartetes Bild, dass sie etliche Male blinzeln musste, ehe sie begriff, was sie sah.
Die Insel war eine Müllhalde.
Zwischen Palmen lagerten rostige Elektrogeräte, Stahlfässer, Gummireifen. Sanfte Hügel waren mit leeren Konservendosen, Plastikflaschen und Behältnissen von Fertigmenüs bedeckt. Auf einstmals grünen Wiesen häufte sich Dreck und Unrat aller Art. Was ein Tropenparadies hätte sein können, war ein Albtraum.
Hiroshi trat neben sie. »Schrecklich, nicht wahr? Das ist das sogenannte Recycling der Industrieländer. Es ist denen zu viel Arbeit, den Restmüll, den sie einsammeln, tatsächlich zu trennen und wiederzuverwerten. Es ist billiger, alles auf Schiffe zu verladen und in die Dritte Welt zu transportieren. Und Ländern wie diesem bleibt oft nichts anderes übrig, als Geld damit zu verdienen, dass sie Land zur Verfügung stellen, auf dem man Müll abladen und vergessen kann.«
»Das ist ja entsetzlich«, meinte Charlotte. Sie sah umher, betrachtete die nassen Haare der Leute noch einmal. »Und da schickst du deine Leute baden?«
Hiroshi deutete nach hinten über seine Schulter. »Vorne neben der Schiffsanlegestelle ist ein hygienisch einwandfreier Strand. Die Insel ist auch noch nicht ganz voll. Sonst würde es noch mehr stinken, als es ohnehin tut.« Er streckte die Hand aus, wies in die Richtung, in der die seltsame gelbe, blasige Masse lag, die sie vom Hubschrauber aus gesehen hatte. »Dort drüben, das kommt aus Europa. Die verpacken ihren Restmüll fein säuberlich in Plastiksäcke.«
»Wie ekelhaft.« Charlotte fühlte sich auf einmal schmutzig. »Hättest du dir keine andere Insel aussuchen können?«
Hiroshi schüttelte den Kopf. »Das war Absicht. Schon als ich das erste Mal von dieser Insel erfahren habe, wusste ich, dass ich den Versuch hier durchführen wollte.«
»Warum um alles in der Welt?«
»Aus zwei Gründen. Erstens, weil das dem Komplex die Arbeit, neue Rohstoffe zu finden, enorm erleichtert. Auf diese Weise brauche ich keine so große Anfangskonfiguration, als wenn ich sofort mit echtem Bergbau anfangen müsste. Und zweitens, weil es das Potenzial dieser Technologie zeigt, mit den Missständen der bisherigen Welt aufzuräumen. Weißt du, wie viele Mülldeponien es auf diesem Planeten gibt? Eine unglaubliche Zahl. Eine unglaubliche Menge Müll. Man könnte mühelos die Oberfläche des Mondes damit bedecken. Selbst
Weitere Kostenlose Bücher