Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
unseren Gewohnheiten verhakt.« Er hatte seine Runde vollendet, war hinter seinem Sessel angekommen. »Vielleicht wird es eine Übergangszeit geben, eine Zeit der Umgewöhnung und Neuorientierung. Mag sein. Aber auf lange Sicht werden wir uns nicht langweilen in der Welt, die nun entsteht«, erklärte er, die Rückenlehne des Sessels umfassend, als stünde er hinter einem Rednerpult. »Wir werden einfach aufhören, langweilige Dinge zu tun, und uns stattdessen den interessanten Dingen des Lebens zuwenden. Und daran, meine Herren, kann ich beim besten Willen nichts Schlechtes finden und nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste.«
Sie saßen starr da, sahen ihn an wie gelähmt. Der Bann brach erst, als Larry Gu in die entstandene Stille hinein leise zu klatschen anfing. »Danke, Mister Kato«, wisperte er mit seiner Stimme, die in diesem Moment klang wie ein Zahnarztbohrer aus einem Nachbarraum. »Ich glaube, ich spreche im Namen aller, wenn ich sage, dass wir keine Einwände dagegen haben,dass Sie Ihre Arbeiten fortsetzen. Wir werden uns von der Welt, die Sie zu errichten im Begriff sind, angenehm überraschen lassen, und sind gespannt –«
In diesem Augenblick piepste Hiroshis Handy. Es war der denkbar unpassendste Moment. Charlotte entging nicht das unwillige Funkeln in den Augen des alten Mannes, der dadurch unterbrochen worden war.
Und es entging ihr auch nicht, wie Hiroshi zusammenzuckte.
»Ich bitte um Entschuldigung«, bat er, nahm das Gerät hastig vom Tisch und wurde blass, als er die Nachricht auf dem Display las.
Hiroshi hatte einen faux pas begangen. Das musste Charlotte niemand erklären, sie sah es an den Blicken und Reaktionen der anderen. Zweifellos war es Pflicht, sein Telefon vor einer Konferenz abzuschalten, und Hiroshi hatte es vergessen oder gar bewusst unterlassen.
Er hob den Kopf. »Ich bitte noch einmal um Entschuldigung für die Störung. Es handelt sich um eine Nachricht vom Versuchsgelände, die mit höchster Priorität eingegangen ist – andernfalls wäre sie unterdrückt worden. Es tut mir leid wegen des ungünstigen Timings, aber ich fürchte, wir müssen umgehend nach Paliuk zurückkehren.«
»Ist etwas passiert?«, wollte Larry Gu wissen.
Hiroshi zögerte, das Telefon in der Hand wiegend. »Sagen wir es so: Ein unerwarteter Verlauf des Experiments macht meine persönliche Anwesenheit unumgänglich.«
Es wurde jeden Abend später, und das lag nur an diesen verdammten Planzeichnungen. Sogar dem Pförtner fiel es schon auf. »Guten Abend, Mister Adamson«, hatte er neulich gesagt, »bei Ihnen lohnt sich’s eigentlich kaum noch heimzugehen, was?«
Und dabei tat er gar nichts. Saß nur da, die Blaupausen auf dem Schreibtisch ausgebreitet, und starrte darauf, als warte er auf eine göttliche Eingebung oder darauf, dass sein Blick Löcher ins Papier brannte.
Ja, ein paar Dinge waren ihm aufgefallen. Dass das Papier der Zeichnungen nach etwas roch, das an Räucherstäbchen erinnerte, zum Beispiel. Oder dass die Chinesen sich nicht um die internationalen Zeichnungsnormen kümmerten.
Oder dass Hiroshi Kato von Normmaßen überhaupt nichts zu halten schien.
Belanglose Erkenntnisse, natürlich. Alles in allem verbrachte er seine Abende damit, auf die Zeichnungen zu starren, bis er das Gefühl hatte, dass seine Augen bluteten, und nichts zu begreifen. Er hatte immer noch keine Ahnung, wie das Gesamtbild aussehen mochte, zu dem diese Teilgeräte gehörten. Dafür entwickelte er einen zunehmenden Hass auf Hiroshi Kato im Speziellen und auf alle Genies im Allgemeinen, die imstande waren, Dinge zu erfinden, auf die er nie im Leben kommen würde. Die er immer erst begriff, wenn er sie fertig vor sich sah.
Und nun versagte selbst diese, seine einzige nennenswerte Fähigkeit. Wenn man mal von einem gut entwickelten Talent zum Business Networking absah.
Aber heute Abend hatte etwas seine Aufmerksamkeit erregt, das ihn womöglich doch weiterbringen würde. Und das nur, weil die Deckenlampe angefangen hatte, so nervtötend zu flackern, dass er sie hatte ausschalten müssen. Nur deshalb waren ihm die Abdrücke am oberen Rand der Blaupause aufgefallen, im schräg einfallenden Licht seiner Schreibtischlampe.
Es waren Ziffern, durchgedrückt von einem Stück Papier, das daraufgelegen und auf dem sich jemand etwas notiert hatte. Eine Telefonnummer, durfte man annehmen. Adamson zog seine Schublade auf, holte einen weichen Bleistift heraus und rieb damit vorsichtig über die Vertiefungen im
Weitere Kostenlose Bücher