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Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Titel: Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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drei Millionen Jahren hatte noch kein Homo gelebt. Also war bereits der Australopithecus imstande gewesen, Werkzeug zu benutzen. Die Steinzeit musste damit um fast eine Million Jahre zurückdatiert werden – ein gravierender Wechsel des Rahmens, an dem sich die Geschichtsschreibung orientierte.
    Charlotte klappte die Zeitschrift zu, legte den Kopf nach hinten, schloss die Augen. Es war, als würde sie das Thema verfolgen. Sie nahm sich die Zeitschrift wieder vor, las das Impressum. Kein Fachmagazin, das nicht, aber es sah seriös aus.
    Sie wusste nicht, was sie damit anfangen sollte. Dieses Kapitel ihres Lebens hatte sie für abgeschlossen gehalten. Sie hatte eine seltsame Vision gehabt, okay, aber weiter war nichts passiert. Sie hatte keinen Weg entdeckt, ihre Ideen auf irgendeine einleuchtende Weise zu überprüfen. Und sie war an einer der besten Universitäten der Welt gewesen, dank ihrer Mutter, die mit weniger nicht zufriedenzustellen gewesen wäre.
    Vielleicht sollte sie einfach endlich ein Kind kriegen.
    Während sie auf den letzten Flug wartete, die Maschine nach Aberdeen, fiel ihr der rote Schal wieder in die Hände, den ihr Hiroshi geschenkt hatte. Der Schal, den seine Maschine gestrickt hatte. Irgendetwas war seltsam damit. Charlotte umfasste ihn mit beiden Händen, schloss die Augen, blendete das Stimmengewirr und die Lautsprecherdurchsagen des Abfertigungsbereichs aus, die sie umhüllten wie akustischer Nebel, konzentrierte sich ganz auf den Schal.
    Sie spürte die Herkunft der Wolle. Sie hatte einen flüchtigen Eindruck von dem Schafscherer, der sie gewonnen hatte – ein Australier, derb, fromm, verliebt in ein Mädchen, das der falschen Religion anhing, weswegen er hin- und hergerissen war. Sie bekam, wie ein Blitzlicht, ein Bild von einer Maschinistin in der Spinnerei, die die Wolle verarbeitet hatte; spürte ihre Sorgen wegen eines Hautausschlags in einem unaussprechlichen Bereich ihres Körpers und ihre Angst, es könnte etwas mit einem Mann zu tun haben, mit dem sie zusammen gewesen war.
    So weit war alles, wie Charlotte es kannte. Bloß was die eigentliche Entstehung des Schals anbelangte, war da nichts. Völlige Leere. Es fühlte sich an, als wäre die Wolle von selber in die Form eines Schals gesprungen.
    Es war das merkwürdigste Kleidungsstück, das sie je in Händen gehalten hatte.
    Es war traurig, zu Hause anzukommen und nicht abgeholt zu werden. Sie nahm ein Taxi. Dabei fiel ihr ein, dass sie ab nun wieder sparsam leben musste; das hatte sie die ganze Reise über so schön ausblenden können. Wieder daran zu denken war, als führe man mit der Zunge über seine Zähne und entdeckte ein Loch.
    Der Taxifahrer war freundlich und gut drauf; er hielt sie für eine Touristin und gab ihr eine Visitenkarte mit seiner Mobilnummer. »Tag und Nacht. Einfach anrufen, und ich steh auf der Matte«, meinte er. »Gibt viele windige Typen in dem Geschäft. Mit denen machen Sie einen Termin aus, und dann kommen die nicht aus dem Bett. Blöd, wenn ein Flug gebucht ist, was?«
    Charlotte gefiel seine Geschäftstüchtigkeit. Sie steckte die Karte ein.
    Als sie ankamen, sah sie Garys Auto vor dem Haus stehen. Sie hätte sich freuen müssen, dass er zu Hause war, aber irgendwie war da nur ein hohles Gefühl in ihr.
    Bestimmt musste sie erst ankommen. Die verrückte Zeit im Pazifik verdauen.
    Die Luft roch nach frischem Gras und Holzfeuer. Es schien am Morgen geregnet zu haben, auf den Büschen und den Feldern glitzerte es feucht. Charlotte nahm ihre Koffer, schleppte sie zum Haus, öffnete die Tür.
    Gary saß am Tisch, sah erschrocken auf. Ihm gegenüber saß ein Mädchen, jünger als Charlotte und eher unansehnlich: mager, mit spitzer Nase und ungebändigten braunen Locken.
    Charlotte setzte ihre Koffer ab, brachte kein Wort heraus. Klar, was los war. Natürlich. Das war es auch nicht, was sie erschütterte.
    Was sie erschütterte, war, wie erleichtert sie auf einmal war.
    Gary sprang auf. Während er auf sie zueilte, schien er sich zu bemühen, zwischen ihr und dem Mädchen zu bleiben. »Komm mit raus«, bat er verlegen. »Ich muss dir das erklären.«
    Charlotte schüttelte den Kopf. Was gab es da noch zu erklären? Aber sie folgte ihm.
    Und so standen sie dann vor dem krummen, schiefen Haus,das einmal ihr Zuhause gewesen war. Auch Gary stand schief und krumm da, kratzte nervös Flechten aus den Mauerritzen und brachte kein Wort heraus – ein erbärmlicher Anblick.
    Charlotte schaute weg. Sie wollte ihn

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