Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
Kongresszentrum Miguel Hidalgo sah aus wie ein in der Vorstadt von México-City notgelandetes Raumschiff. Insofern war es kein unpassender Ort für einen Kongress über alternative Menschheitsgeschichte. Allerdings ging es vorwiegend um Hypothesen, wonach die Menschheit in grauer Vorzeit Besuch von den Sternen gehabt hatte oder gar gleich komplett von Wesen aus dem All erschaffen worden war.
Charlotte lehnte sich gegen die Balustrade der Galerie und sah hinab auf das Treiben in der Halle. Auf der zentralen Bühne wurden Stühle gerückt und Namensschilder aufgestellt. Hier fanden am Nachmittag die großen Podiumsdiskussionen statt und abends Konzerte ungemein avantgardistischer Bands. Bis zum Beginn des nächsten Programmpunkts war es noch über eine Stunde, trotzdem saßen schon Leute im Auditorium und hantierten erwartungsvoll mit Videokameras. Andere lasen in Büchern oder unterhielten sich angeregt.
»Tja, wie ist es hier?«, wiederholte Charlotte. »Es gibt eine Menge Vorträge zu Themen wie ›Hatten die Neandertaler Kontakt mit Aliens?‹ oder ›Die Suche nach Atlantis‹ und so weiter. Aber nicht nur. Das sind bloß die, auf die sich die Journalisten stürzen und über die dann groß berichtet wird. Es sind durchaus einige seriöse Wissenschaftler vertreten.« Versuchte sie sich da nicht saure Trauben süß zu reden? Das ganze Ambiente machte es einem verdammt schwer, an der Überzeugung festzuhalten, dass hier wirkliche Wissenschaft stattfand – Wissenschaft wie in Wissen schaffen – und nicht bloß Propaganda für krude Ideen. Auch war das »Open Horizon Forum«, das diesen Kongress veranstaltete, nicht gerade eine Organisation, in der es von intellektuellen Leuchtfeuern wimmelte.
»Ach, es macht einfach Spaß«, beharrte sie. »Und es regt zum Nachdenken an. Man hat auf jeden Fall was zum Diskutieren, wenn man wieder abreist. Natürlich muss man alles noch mal nachprüfen, was hier behauptet wird, aber das muss man heutzutage ja sowieso.«
»Charlie«, meinte Brenda wohlwollend, »es ist völlig in Ordnung, wenn du einfach deinen Spaß hast. Oder was Verrücktes machst. Das darf auch mal sein.«
Charlotte spürte einen Kloß im Hals. Es konnte passieren, was wollte, Brenda hielt zu ihr, unbeirrbar. Sie war der Fels in der Brandung ihres Lebens.
Sie schluckte und versuchte, nicht zu schniefen, als sie zurückfragte: »Was ist mit dir? Alles in Ordnung? Ist Jason immer noch erkältet?«
»Wenn er nicht morgens so früh aufstehen müsste, ginge es ihm besser, hat er gestern gemeint«, lachte Brenda. »Er und die Schule, das ist und bleibt ein Drama. Aber ich rufe wegen was anderem an. Du erinnerst dich vielleicht noch an Adrian? Adrian Cazar? Er war bei Jasons Taufe da. Ihr habt euch unterhalten, draußen auf der Terrasse. Klimatologe.«
Eine vage Erinnerung an einen schlanken jungen Mann, der entfernt wie Johnny Depp aussah. »Ja«, meinte Charlotte. »Sagt mir was.«
»Er hat mich um deine aktuelle Telefonnummer gebeten. Und ich dachte, ich frag besser erst, ob das okay ist, wenn ich sie ihm gebe.«
Charlotte verzog das Gesicht. »Hmm. Und was will er? Du weißt, ich habe den Männern abgeschworen. Ich bin jetzt eine Nonne der Paläoanthropologie.«
Brenda lachte glockenhell auf. »Ja, ja. Bis der nächste Mann auftaucht. Das klingt beinahe wie Toms Motto vom strengen Fasten zwischen den Mahlzeiten als Weg zur schlanken Linie. Nein, Adrian hat ein sachliches Anliegen. Es geht um irgendeine wissenschaftliche Arbeit, die er plant. Er hat sich etwas bedeckt gehalten, hat gemeint, das müsse er dir selber erklären.«
»Ich weiß nicht. Ich hab eigentlich schon mit meiner un wissenschaftlichen Arbeit genug zu tun. Ich kann mich doch nicht um alles kümmern.«
»Ach, komm, Charlie. Er ist ein seriöser Mensch. Du solltest dir zumindest anhören, was er will. Nein sagen kannst du immer noch.«
Charlotte seufzte. »Also gut. Meinetwegen. Er soll mich anrufen. Aber erst, wenn der Kongress vorbei ist. Ehe ich meinen Vortrag nicht vom Hals habe, kann ich mich auf nichts anderes konzentrieren.«
»Du schaffst das schon«, meinte Brenda mit ansteckender Zuversicht. Ach, Brenda. Sie hätte so gern noch mehr Kinder gehabt, aber daraus würde wohl nichts mehr werden. Drei Fehlgeburten, das ließ wenig Hoffnung auf Geschwister für Jason.
Nach dem Telefonat schlenderte Charlotte ziellos umher und überlegte, wie sie sich die restlichen drei Stunden bis zu ihrem Vortrag ablenken konnte. Dabei war es so
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