Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
Vorsitzende der Duma bei ihm nach Charlottes Befinden erkundigt habe.
Mit jedem Tag versank sie tiefer in Lethargie. Sie verstand besser als je zuvor, wieso sie von Kindesbeinen an den Drang verspürt hatte, zu entfliehen. Doch wohin sollte sie denn gehen? Der Glaube daran, dass sie anderswo finden würde, was sie suchte und was ihr fehlte, war ihr abhandengekommen.
Schließlich schaffte sie es, Brendas Mutter anzurufen. Die versicherte ihr, mit ihrer Bostoner Wohnung sei alles in Ordnung, und sie gab ihr Brendas neue Telefonnummer in Buenos Aires. Und ja, der Umzug sei gut verlaufen, sogar Jason gefalle es ganz prima.
Brenda überschlug sich fast vor Freude, als sie sie anrief. »Gut gefällt’s uns«, rief sie, als Charlotte danach fragte. »Wir haben ein riesiges Haus, mit Palmen entlang der Auffahrt und einem verwilderten Garten … die Leute an der Uni sind total nett … Na ja, Jason motzt natürlich von morgens bis abends. Ich weiß nicht, ob er in der Schule überhaupt was mitkriegt. Ich hab mich jetzt breitschlagen lassen und ihm diesen Spielcomputer, diese Gamestation oder wie das heißt, gekauft, aber die Spiele dafür kriegt er nur auf Spanisch, darauf bestehe ich. Vielleicht hilft das.«
Brenda war die Erste, die sich dafür interessierte, was Charlotte auf der Teufelsinsel erlebt hatte. Bloß wollte Charlotte, der Schweigeverpflichtung eingedenk, die sie unterschrieben hatte, ihr das nicht am Telefon erzählen und vertröstete sie auf ein Wiedersehen.
»Ja, komm doch einfach«, meinte Brenda begeistert. »Dukannst unser Gästezimmer einweihen. Eins unserer Gästezimmer, genauer gesagt.«
Dann erzählte sie, dass sie außer den Gästezimmern noch ein zweites Kinderzimmer hergerichtet hatten, weil sie im Begriff standen, ein Kind zu adoptieren. Ein Mädchen aus Bangladesh, das Lamita hieß und neun Jahre alt war.
»Älter als Jason?«, meinte Charlotte. »Ist das nicht ein bisschen heikel?«
»Klar, aber es muss sein.« Brendas Stimme hatte auf einmal einen Klang, den Charlotte gar nicht an ihr kannte: Schmerz sprach daraus. »Du erinnerst dich doch noch an Parimarjan, oder? Der uns immer mit Wasser bespritzt hat, wenn wir bei mir waren? Der arbeitet heute für eine Bank in Kalkutta, hat viel in Bangladesh zu tun und … Also, jedenfalls, Lamita ist sozusagen Konkursmasse einer Näherei, die in der Nähe von Khulna pleitegegangen ist. Konkursmasse , stell dir vor! Der Besitzer der Firma hat das Mädchen seinen Eltern abgekauft, als sie fünf war, und sie zehn Stunden am Tag arbeiten lassen. Sklaverei, schlicht und einfach. Und ihre Eltern sind nicht mehr auffindbar oder wollen sie nicht zurück …« Man hörte durchs Telefon, über zwei Kontinente und einen Ozean hinweg, wie Brenda innehielt, um Atem zu holen und die Fassung zu bewahren.
»Das ist ja eine grauenhafte Geschichte«, meinte Charlotte und hatte das Gefühl, damit etwas ungeheuer Lahmes zu sagen.
»Ja. Deswegen nehmen wir sie. Jason wird sich einfach daran gewöhnen müssen, eine ältere Schwester zu haben.«
So erschütternd diese Neuigkeit war, sie zu hören war die Rettung für Charlotte. Daran erinnert zu werden, dass auch andere Menschen Probleme hatten, riss sie aus ihrer Resignation. Sie beschloss, Moskau zu verlassen, nach Boston zurückzukehren, sich um ihre Wohnung und ihr Forschungsprojekt zu kümmern, und sobald sie das alles auf der Reihe hatte, Brenda und Tom in Argentinien zu besuchen.
GEMEINSAMER UNTERSUCHUNGSAUSSCHUSS
SARADKOV ISLAND EVENT
VORSITZ: SENATOR RICHARD COFFEY (USA)
STELLVERTRETENDER VORSITZ:
MINISTER ANATOLI MICHAILOW (RUS)
STATUS DES DOKUMENTS: VERTRAULICH
AUSZUG AUS DER BEFRAGUNG DES ZEUGEN
HIROSHI KATO (JAP)
Vorsitzender: Diese Auflösung der ganzen Bauwerke – dass alles zu Staub zerfallen ist – war eine Art Selbstzerstörungsmechanismus, sehe ich das richtig?
Zeuge: Ja. Die Naniten haben erst alles zerlegt, was sie gebaut hatten, und anschließend einander, bis nichts mehr übrig war.
Vorsitzender: Wie haben Sie diese Selbstzerstörung ausgelöst?
Zeuge: Das war einfach. Zerstören ist nun mal das Einfachste.
Vorsitzender: Das beantwortet die Frage nicht.
Zeuge: In den Funksignalen, die die Naniten ausgesendet haben, hat sich eine bestimmte Signalfolge immer wiederholt, und dann war jedes Mal eine Pause. Ich habe diese Signalfolge als, sagen wir, Frage interpretiert und die darauf folgende Pause als Warten auf eine mögliche Antwort. Da die Naniten ihre Aktivitäten kurz zuvor
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