Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
die Möglichkeiten der Naniten im Grunde. Wenn man imstande war, Atome an präzise bestimmbare Positionen zu setzen, konnte man Materialien herstellen, die in der Natur nicht vorkamen, aber über schier unglaubliche Eigenschaften verfügten. Die bisherigen Forschungen auf dem Gebiet der Nanotechnologie – die Hiroshi natürlich all die Jahre aufmerksam verfolgt hatte – hatten etwa »Nanotubes« entwickelt, Röhren aus Kohlenstoffatomen,die federleicht und doch härter als Diamant waren. Und das war, daran zweifelte niemand, erst der Anfang.
Hiroshi hätte Rodney eine Garage bauen können, deren Wände dünner als ein menschliches Haar waren, aber mühelos einem Granatenbeschuss standgehalten hätten: Es wäre sogar einfacher gewesen und schneller gegangen.
Bloß wäre es eine ziemlich auffällige Garage geworden.
Wenn es nicht zu stark regnete, unternahm Hiroshi stundenlange Spaziergänge am Strand. Der Himmel war dann bleich und konturlos, das Meer von einem metallischen, stumpfen Grau, wie Gusseisen ungefähr.
Nach einer Weile fand er heraus, dass er in dem Flur, in dem sich sein Apartment befand, tatsächlich allein wohnte. Vor dem Aufzug stand ein großes Meerwasser-Aquarium, in dem ein einsamer hässlicher Fisch schwamm, der aussah, als langweile er sich entsetzlich. Jedes Mal, wenn sich die Aufzugstür öffnete, kam er an die Frontscheibe und glotzte einen an, als freue er sich über die Abwechslung. Falls es nicht einfach die grelle Beleuchtung im Inneren der Aufzugskabine war, die ihn faszinierte.
Hiroshi dachte viel nach auf seinen langen Spaziergängen, über sich selbst, sein Leben und darüber, warum er eigentlich tat, was er tat. Was ihn trieb. Denn so fühlte er sich: wie ein Getriebener.
Warum zum Beispiel war er ausgerechnet nach Minamata gekommen? Wenn es darum gegangen wäre, einfach nur unterzutauchen, hätte sich jede andere japanische Stadt genauso geeignet, wenn nicht besser. Stattdessen: Minamata, die Stadt seiner Großeltern, die ihn nie sonderlich gemocht hatten und die er nie sonderlich gemocht hatte.
Natürlich konnte er eine Reihe von guten, logischen Gründen anführen: Erstens, Minamata war nicht Tokio, wo er einer Menge Leuten hätte über den Weg laufen können, die ihn erkannt hätten, Leuten zudem, die im Unterschied zu seinen Großeltern nicht alt und krank waren und ihre Wohnung nurnoch verließen, um zum Arzt zu gehen. Zweitens, er kannte sich dank der ungeliebten Besuche in seiner Kindheit einigermaßen aus, was viele organisatorische Dinge vereinfachte. Zum Beispiel kannte er diese Ferienanlagen vom Sehen her – tatsächlich hatte er sich als Kind bisweilen vorgestellt, eines Tages einmal hier Urlaub zu machen. Und drittens erkannte man ihn hier trotz allem nicht, sah in ihm einen – allenfalls etwas sonderbaren – Gast wie jeden anderen.
Aber so gut und logisch diese Gründe auch klingen mochten, Hiroshi spürte deutlich, dass sie nur die halbe Wahrheit waren. Und deswegen grübelte er, während er auf grauem Sand unter grauem Himmel einen Fuß vor den anderen setzte und der Wind ihm Salz auf die Lippen blies: um die andere Hälfte der Wahrheit zu ergründen.
An manchen Tagen genügte ihm der Strand nicht. Dann zog es ihn weiter, hinein in die angrenzenden Siedlungen, wo er in dem vergeblichen Versuch, sich rettungslos zu verirren, durch schmale, fremde Gassen strich. Einmal landete er dabei auf einem weitläufigen Friedhof, wo er lange und mit seltsamer Lust umherwanderte und die Stille in sich aufsaugte, die von den Gräbern auszugehen schien, den tiefen Frieden. Dies, sagte er sich, war die letztendliche Bestimmung des menschlichen Daseins: aufzuhören zu funktionieren und alle Atome, aus denen man bestand, wieder dem großen Ganzen zur Verfügung zu stellen.
Hier war es auch, wo er begriff, was ihn ausgerechnet nach Minamata gezogen hatte: die Erinnerung an Tante Kumiko, vor der er sich als Kind so schrecklich gegruselt hatte und die er heute schrecklich bedauerte, wenn er an sie zurückdachte, an dieses elende, deformierte, gequälte Wesen, das so lange Jahre in immer demselben Bett verbracht hatte und in Ängsten, die es mit niemandem hatte teilen können. Tante Kumiko, die der Auslöser dafür gewesen war, dass er angefangen hatte, sich für Atome zu interessieren. Es war nur angemessen, dass er hierhergekommen war.
Auch über Rodney musste er nachdenken und über denletzten Abend bei ihm. Im Nachhinein machte er sich Sorgen, dass er ihn und Allison
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