Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
Anwalt konsultieren, um herauszufinden, ob ihn die Familie nach texanischem Recht wirklich enterben konnte. Wir waren gerade dabei, uns zu überlegen, wohin wir gehen und was wir auf uns allein gestellt machen würden, als uns beiden schlecht wurde – erst mir, am nächsten Tag auch John. Wegen mir haben sie keinen Arzt gerufen, aber als John sich unwohl fühlte, kam natürlich einer.« Sie begann sich die Seiten zu reiben, als versuche sie, auf diese Weise ihren Körper in die Länge zu strecken. »Ich weiß noch, der Arzt sah aus wie dieser amerikanische Schauspieler, John Wayne. Er trug schwere Lederstiefel, hatte einen Cowboyhut auf dem Kopf und ein Stethoskop um den Hals. Er ließ sich von den Leaks nichts sagen, sondern untersuchte mich als Erste. Gratuliere, sagte er mir, Sie sind schwanger. Dann untersuchte er John, stand auf und sagte: Sofort ins Krankenhaus. Und dort hat sich dann herausgestellt, dass John einen Hirntumor hatte, der rasend schnell wuchs.«
Hiroshi schluckte. Davon hatte sie ihm noch nie ein Wort erzählt. Das hieß wahrscheinlich, dass sein Vater nicht mehr lebte.
»Sie haben ihn noch am selben Tag operiert. Es war eine sehr lange, sehr schwere Operation, und es ging nicht so gut, wie sie gehofft hatten. Wir saßen in der Klinik, bis endlich, weit nach Mitternacht, einer der Ärzte herauskam und uns berichtete, wie es aussah. Er sagte, dass der Tumor an einer sehr empfindlichen Stelle säße, dass Johns Zustand sehr kritisch sei und dass er, selbst wenn er am Leben bleiben sollte, danach nicht mehr derselbe sein würde. Selbst im besten Fall, meinte er, würde John jahrelang pflegebedürftig bleiben, wahrscheinlich aber für immer.« Hiroshis Mutter legte ihre Hände vors Gesicht. »Und am nächsten Tag, während sein Sohn im Krankenhaus im Koma lag, während die Ärzte um sein Leben kämpften und niemandwusste, ob er den nächsten Tag oder selbst nur die nächste Stunde überlebt – während all dieser Zeit hat Johns Vater auf mich eingeredet, hat mich bedrängt, mein Kind abtreiben zu lassen. Er hatte alles schon vorbereitet, stell dir vor, den Arzt, die Klinik, alles. Ich hätte nur aus der Tür gehen und mich in das Auto setzen müssen, und es wäre passiert. Dann wärst du niemals geboren worden.«
Hiroshi rieb sich unbehaglich am Hals. Das war ein eigenartiger Gedanke: nie geboren worden zu sein.
»Ich wusste erst gar nicht, warum er das wollte und wieso er es so eilig hatte. Erst nach einer Weile habe ich verstanden, worum es ihm ging: Für den Fall, dass John starb, wollte er nicht, dass es einen Erben gab, der seinen anderen Kindern Probleme hätte machen können! Es ging ihm nur um das Geld, nur um das Vermögen der Familie. Nur weil er sich darum Sorgen gemacht hat, wollte er dich umbringen! « Sie holte tief Luft, keuchte beinahe. »Das war der schrecklichste Tag meines Lebens. Ich kann es bis heute nicht vergessen, wie dieser dicke, schwitzende Mann dasitzt und mich überreden will, mein Kind töten zu lassen. Und wie alle, alle Leute bereitwillig mitgemacht hätten – der Arzt, der Chauffeur, alle. Nur weil dieser Mann das Geld dazu hatte. Weil er reich war. Du warst ihm egal, ich war ihm egal – das Einzige, was ihm nicht egal war, war sein Geld.«
»Und was hast du dann gemacht?«, fragte Hiroshi entgeistert.
»Ich bin geflohen.« Ihr Atem zitterte. Sie legte die Hand auf ihre Brust und musste eine Weile ein- und ausatmen, ehe sie weitersprechen konnte. »John hatte mir irgendwann amerikanisches Geld gegeben, ziemlich viel, mehrere Hundert Dollar, und ich hatte noch mein Flugticket. Als Johns Vater von einem Telefonanruf weggerufen wurde – irgendetwas Geschäftliches –, bin ich auf mein Zimmer gerannt, habe wie von Dämonen gehetzt die nötigsten Sachen in eine Umhängetasche gestopft, bin über eine Hintertreppe hinunter und aus dem Haus. Und dort bin ich zu meinem großen Glück einem Mann über den Weg gelaufen, der aus Japan stammte. Ich habe ihm gesagt, dass manmich zwingen will, mein Baby zu töten, und dass ich wegmuss. Er hat mich einfach mitgenommen. Er war Fahrer für einen Supermarkt und hatte gerade, wie jede Woche, Lebensmittel auf das Leak-Anwesen gebracht. Ich habe mich in seinem Wagen versteckt, und niemand hat uns angehalten. Er hat mir geholfen, das Ticket umzubuchen in eines, das von einem anderen Flughafen aus zurückging und auf dem vor allem mein Name anders geschrieben stand, damit sie mich, falls sie hinter mir her waren, nicht so leicht
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