Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
aufspüren würden. Und so bin ich nach Tokio zurückgekommen. Als ich aus dem Flugzeug stieg, hatte ich gerade noch genug Geld, um in die Stadt zu fahren.«
»Wow«, meinte Hiroshi. Das war ja vielleicht eine Geschichte! Nie im Leben hätte er gedacht, dass seine Mutter derartige Abenteuer erlebt haben könnte.
Sie schien ihn ganz vergessen zu haben. Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. »Ich habe mich bei meinen Eltern versteckt. Ich habe dich bekommen, und danach habe ich mich weiter versteckt. Ich hatte jahrelang Angst, Johns Vater könnte jemanden schicken, der mich aufspürt und dir etwas antut. Deshalb habe ich die Stelle bei Inamoto- san angenommen: weil ich mir gesagt habe, dass jemand, der nach mir sucht, in Büros Ausschau halten würde, in Berufen, für die man Englisch beherrschen muss. In so einer niedrigen Tätigkeit wie in einer Wäscherei, so habe ich gehofft, würde man mich nie finden. Mich nicht. Und dich auch nicht.«
Hiroshi überlegte. »Aber er hätte Oma und Opa finden können. Und die hätten gewusst, wo du bist.«
»Deshalb habe ich sie überredet wegzuziehen. Minamata ist weit weg, habe ich mir gesagt.«
Hiroshi saß da wie erschlagen. Kein Wunder, dass sie früher oft so ein Theater gemacht hatte, wenn er mal zehn Minuten später als üblich aus dem Kindergarten gekommen war. Bestimmt hatte sie in solchen Momenten befürchtet, jemand habe ihn entführt oder so.
»Denkst du, dass sie uns immer noch suchen?«, fragte er.
»Ach, wahrscheinlich haben sie uns nie gesucht«, meinte Mutter. »Aber ich hatte eben derartig Angst um dich.«
Hiroshi nickte. Das war verständlich. »Und seither magst du keine reichen Leute.«
»Ja. Das stimmt.« Sie streckte die Hand aus, fuhr ihm über den Kopf. »Dabei habe ich reiche Leute bewundert, als ich jung war. Wenn sie ins Reisebüro kamen, elegant gekleidet, mit guten Manieren, wenn man gemerkt hat, es spielt für sie keine Rolle, wie viel eine Reise kostet … Dann habe ich immer gedacht, so müsste es sein, das Leben: dass es bloß darum gehen sollte, was einem gefällt, was man haben oder erleben will, ohne dass man sich darum kümmern müsste, was es kostet. Und ehrlich gesagt – irgendwo denke ich das immer noch. Dass das Leben vor allem schön sein sollte. Nicht Arbeit von früh bis spät, die meistens keinen Spaß macht. Aber wenn man dazu reich werden muss … Wenn man dazu rücksichtslos werden muss, so hartherzig, dass man imstande ist, das, was man will, anderen einfach wegzunehmen, sogar dafür zu töten – dann ist das zu teuer bezahlt. Dann ist das Leben, das man auf diese Weise gewinnt, auch nicht das Leben, wie es sein sollte, verstehst du?«
Hiroshi nickte. »Ich glaube schon.« Er zögerte. »Hast du je erfahren, was aus meinem Vater geworden ist?«
»Nein«, sagte sie.
»Und was denkst du?«
»Manchmal denke ich, er hat es doch überlebt. Aber wenn das so ist, dann hat er mich vergessen.« Ihre Augen schimmerten feucht. »Du siehst ja an Tante Kumiko, wie so etwas gehen kann. Da ist jemand vorher ein lebhafter, kluger Mensch – und nachher liegt er im Bett und weiß kaum noch seinen eigenen Namen!«
Hiroshi sah zu Boden und versuchte, sich den Mann, den er nur von Fotos kannte, bettlägerig vorzustellen, hilflos, auf Pflege angewiesen wie Tante Kumiko. Er konnte es nicht – und eigentlich wollte er es auch nicht. Überhaupt fand er das alles eine entsetzlich traurige Geschichte.
Aus irgendeinem Grund fiel ihm noch ein zu fragen: »Der Mann, der dir geholfen hat – weißt du, wie er hieß?«
Seine Mutter zögerte. »Er hieß wie du«, sagte sie schließlich. »Hiroshi.«
»Du hast mich nach ihm benannt?«
»Er hat dir das Leben gerettet. Das war das Mindeste, was ich tun konnte.«
Das alles gab Hiroshi einige Tage lang eine Menge zum Nachdenken. Da sich in Charlottes Fenster nichts tat, hätte er auch die Zeit dazu gehabt, doch das Bon-Fest und damit die Reise nach Minamata rückten immer näher, was Mutter wie jedes Jahr in zunehmende Nervosität versetzte. Die Koffer wurden hervorgeholt, gepackt, umgepackt, geleert und wieder von Neuem gepackt. Die Anzahl und Dauer der Telefonate mit ihren Eltern, in denen es um Ankunftszeiten, Abholung und dergleichen ging, nahm mit jedem Tag zu. Und wie angedroht, schleppte sie ihn in die Stadt, um ihm eine neue Hose zu kaufen – eine Tätigkeit, die er schon für sich allein genommen hasste, und diesmal umso mehr, als er befürchtete, deswegen einen Besuch bei Charlotte
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