Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Titel: Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
Vom Netzwerk:
gefaltete Boote mit kleinen Laternen darauf auszusetzen. Sie sahen zu, wie all die vielen sanften Lichter sich zu einem großen, glimmenden Muster vereinten, das gemächlich davontrieb und in der Ferne entschwand: Der Überlieferung zufolge half man damit den umherirrenden Seelen, den Weg zurück in die Unterwelt zu finden.
    Hiroshi versuchte, überschlagmäßig auszurechnen, wie bevölkert die Unterwelt sein musste, wenn sich dort tatsächlich die Seelen aller Menschen aufhalten sollten, die jemals gelebt hatten. Er kam auf Zahlen, bei denen ihm ganz schwindlig wurde. Hatte sich schon einmal jemand überlegt, was los war, wenn diese Seelen beschlossen, nicht mehr in der Unterwelt zu bleiben? Was geschehen würde, wenn die Unterwelt eines Tages zu voll war?
    Aber soweit er das beobachtete, glaubte sowieso niemand mehr im Ernst daran, dass an o-bon wirklich die Seelen der Toten um sie herum waren. Es war nur noch eine Tradition, ein Anlass, dass die Familie zusammenkam.
    »Gut, dass ihr erst ein paar Tage später zurückfahrt«, sagte Großvater am nächsten Morgen.
    Mutter erklärte, es wäre nicht anders gegangen.
    »Ja, unmittelbar um o-bon herum ist immer alles ausgebucht«, meinte Großmutter. »Da ist ganz Japan unterwegs.«
    Alle waren sich einig, dass es eine gute Idee gewesen war, noch ein paar Tage zu bleiben. Hiroshi war der Einzige, der es nicht erwarten konnte, wieder nach Hause zu fahren, und er hütete sich, einen Ton zu sagen.
    Als sie zurückkamen, war Charlotte nicht mehr da. Botschafter Malroux war überraschend abberufen worden, erfuhren sie. Die ganze Familie hatte von heute auf morgen ihre Sachen gepackt und war abgereist.
    Einen Tag zuvor. Sie hatten sich ganz knapp verpasst.
    Hiroshi stand wie gelähmt, als ihm seine Mutter die Neuigkeiten aus der Botschaft erzählte. Die Ankunft des vorherigen Botschafters, Bernard Beaucour, den Jean-Arnaud Malroux lediglich während einer längeren Krankheit vertreten hatte, war für die folgende Woche angekündigt.
    Charlotte war fort!
    Und sie hatte ihm nicht einmal einen Abschiedsbrief hinterlassen.
    »Da siehst du’s«, sagte Hiroshis Mutter voller Ingrimm. »Du warst nur Spielzeug für sie. So sind sie, die reichen Leute.«
    Hiroshi dagegen sagte sich, dass Charlotte ihm ja gar keinen Brief schreiben konnte , weil sie Japanisch nur sprechen , aber nicht schreiben konnte. Dass es nur daran lag. Dass es eben Pech gewesen war.
    Doch nach und nach ging ihm auf, dass Charlotte ihm ja einen Brief auf Englisch hätte schreiben können. Sie hatte in Indien gelebt, natürlich beherrschte sie das Englische. Und sie wusste, dass Hiroshi Englischunterricht hatte, englische Filme sah und Englisch zwar nicht gut sprach, aber doch lesen konnte.
    Ja, tatsächlich musste man sich sagen, dass Charlotte, wenn sie es gewollt hätte, durchaus die Möglichkeit hatte, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen.
    Es kam aber keine. Damit musste er sich abfinden.
    »Wer weiß, wozu es gut war«, meinte seine Mutter irgendwann, als sie gerade philosophisch gestimmt war.
    Immerhin, sagte sich Hiroshi, hatte ihn Charlotte auf seine große Idee gebracht. Dafür zumindest war es gut gewesen.
    Er würde Charlotte vergessen und sich ganz auf seine Idee konzentrieren, damit er sie eines Tages, wenn er groß war, in die Realität umsetzen konnte.
    Da es dazu notwendig war, gute Noten zu bekommen, wurde er von diesem Tag an zu einem hervorragenden Schüler.

UNTERWEGS
    E ines Tages, er war inzwischen vierzehn Jahre alt, saß, als Hiroshi abends von der Schule und der anschließenden Kybernetik-Arbeitsgruppe nach Hause kam, ein Mann am Tisch.
    Der Mann war groß, ein Westler, schwerfällig und aufgedunsen, ja, eigentlich richtig hässlich. Er saß mit ungeschickt verschränkten Beinen am Tisch, und es sah aus, als säße er da schon lange und habe die ganze Zeit mit Mutter geredet. Und aus irgendeinem Grund hatte Mutter feuchte Augen.
    »Hiroshi«, sagte sie mit belegter Stimme. »Das ist dein Vater.«
    »Ohne Scheiß?«, erwiderte Hiroshi, aber tatsächlich wusste er im selben Moment, in dem sie es sagte, dass es stimmte. Mit einem Schlag fiel ihm alles wieder ein, was Charlotte ihm seinerzeit über seinen Vater erzählt hatte – und auch, wie sie es erzählt hatte; wie sie es aus seinem Taschenmesser herausgelesen hatte. Auf verwirrende Weise kam es ihm auf einmal vor, als kenne er diesen Mann, den er noch nie im Leben gesehen hatte, schon seit ewigen Zeiten.
    Trotzdem war es eine seltsame

Weitere Kostenlose Bücher