Herr der Diebe
den Wänden entlang. Da flatterte plötzlich etwas auf ihn zu, weißgrau, Flügel streiften sein Gesicht. Mit einem Aufschrei ließ er die Taschenlampe fallen, tastete hektisch in der Dunkelheit nach ihr und richtete den Strahl auf das, was da ziellos umherflatterte… eine Taube! Eine gottverdammte Taube. Victor fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als könnte er den Schreck fortwischen. Der Vogel schien genauso erleichtert, beruhigt ließ er sich auf einem Korb nieder, der an der Wand baumelte.
Noch so eine Überraschung, dachte Victor, und mein armes Herz macht das nicht mehr mit. Er atmete noch einmal tief durch und ging weiter. Dieser große, finstere Saal war wirklich ein seltsames Versteck für ein paar heimatlose Kinder. Ja, es gab keine andere Erklärung. Der junge Massimo musste sie hier untergebracht haben, im leeren Kino seines Vaters. Der Vorhang vor der Leinwand glitzerte, als Victor ihn anleuchtete. Was, wenn sie sich irgendwo versteckt hatten? Er machte noch einen Schritt und stieß mit der Schuhspitze gegen eine Matratze. Ein ganzes Matratzenlager war hinter den Sitzen auf dem Boden aufgebaut: Decken, Kissen, Bücher und Comichefte, sogar einen kleinen Kocher entdeckte Victor.
Donnerwetter. Der Kleine hat keine Märchen erzählt!, dachte er. Es ist, wie Bo gesagt hat: Er wohnt in einem Kino, mit seinem großen Bruder und seinen Freunden. Kindervorstellung. Kein Einlass für Erwachsene. Das Licht der Taschenlampe fiel auf einen Teddybären, einen Stoffhasen, Angelruten, einen Werkzeugkoffer, Stapel von Büchern und ein Plastikschwert, das aus einem Schlafsack ragte. An der Wand und den Lehnen der Sitze klebten Fotos und Bilder, ausgeschnitten aus Zeitschriften und Comicheften. Plakate. Leuchtsterne. Sticker. Über einer Matratze waren Blumen an die Wand gemalt, bunt und groß, Fische, Boote, eine Piratenfahne. Er stand in einem Kinderzimmer. Einem riesigen Kinderzimmer. Ich hätte was auf die Ohren gekriegt, wenn ich mir eine Piratenfahne auf die Tapete gepinselt hätte, dachte Victor. Für einen kurzen Moment verspürte er den verrückten Wunsch, sich auf eine der Matratzen zu legen, ein paar von den Kerzen anzuzünden, die überall herumstanden, und alles zu vergessen, was zwischen seinem neunten Geburtstag und dem jetzigen Tag passiert war. Da hörte er wieder ein Geräusch. Victors Nackenhaar sträubte sich. Da war jemand. Ganz sicher. Und es war ein Mensch. Die Anwesenheit eines Menschen fühlte sich anders an als die eines Tieres, anders als die einer Taube oder einer Maus. Victor vergaß die Matratzen und schlich auf die Klappsitze zu. Waren sie wirklich so dumm, sich auf ein Versteckspiel mit ihm einzulassen? Glaubten sie, dass er dieses Spiel nicht mehr beherrschte, nur weil er erwachsen war? »Da muss ich euch enttäuschen!«, sagte Victor laut. »Ich war schon immer ein erstklassiger Sucher beim Versteckspielen. Und beim Kriegen habe ich sie alle gefangen. Trotz meiner kurzen Beine. Ihr könnt also genauso gut gleich aufgeben.« Seine Stimme klang fremd, als sie durch den Kinosaal hallte. »Was glaubt ihr?«, rief er, während er zwischen die roten Sessel leuchtete. »Dass das hier ewig so weiterlaufen kann? Wovon ernährt ihr euch? Vom Klauen? Wie lange soll das noch gut gehen? Na ja, das ist nicht meine Angelegenheit. Ich bin sowieso nur an zweien von euch interessiert. Für den Größeren steht ein Internatsplatz bereit, für den Kleineren sogar ein Zuhause. Ein echtes Zuhause. Essen satt, Betten, ein normales Leben. Da kann man doch ein bisschen Haarsprayduft in Kauf nehmen.«
Zum Teufel, was rede ich da?, dachte Victor und blieb stehen. Das hört sich ja nicht sehr verlockend an. Außerdem bin ich zu alt, um in einem stockdunklen Kino mit einer Bande Kinder Verstecken zu spielen. »He, Victor, fang mich doch!«, rief plötzlich eine Stimme. Eine helle Stimme. Victor kannte sie. Der glitzernde Vorhang bekam plötzlich eine Beule. »Hast du eigentlich eine Pistole?«, fragte die Stimme hinter dem sternenbestickten Stoff, und Bos tintenschwarz gefärbter Kopf schob sich zwischen den Falten hervor. »Natürlich!« Victor schob die Hand unter seine Jacke, als griffe er nach seinem Revolver. »Willst du sie dir mal ansehen?« Langsam trat Bo aus seinem Versteck. Mit schief gelegtem Kopf stand er da und guckte Victor an. Wo steckte Prosper, sein großer Bruder? Victor blickte nach links, nach rechts, über die Schulter, aber überall sah ihn nur die Dunkelheit an mit ihrem schwarzen
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