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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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Ferne hörst
    Und du, Kaniũrũ, hast eine große Nase,
    damit du aus weiter Ferne alles riechst
    Hört also zu, was wir, die Menschen dieses Landes sagen
    Wir wünschen Frieden, Einheit und Fortschritt
    Ein guter Führer ist der, der das bewirken kann
    Ich werde singen, was ich für den sang, der vorher da war
    Ich werde das gleiche Lied für den singen, der heute hier ist
    Ich werde das gleiche Lied für den singen, der danach folgen wird
    Als ich gegen die Kolonialmacht kämpfte
    Glaubte ich, Frieden hieße, eine Kuh, die mich mit Milch ernährt
    Gestern hatte ich nichts zu essen
    Heute ist es nicht anders
    Wer hat Ohren, das Volk zu hören?
    Sikiokuu war von diesem Lied gerührt. Er nahm an, die Damen würden ihn in verschlüsselten Worten bitten, endlich zum Führer des Landes aufzusteigen. Er klatschte enthusiastisch, als wollte er damit andeuten, dass er ihren Aufruf verstanden habe. Kaniũrũ dagegen gefiel überhaupt nicht, was da gesungen wurde, doch weil es Sikiokuu gelungen war, die Situation zu entschärfen, erlaubte er sich ein Lachen. Die Journalisten, die einen großen Knall erwartet hatten, bekamen jetzt nur eine kleine Blase geliefert und fühlten sich um eine gute Geschichte betrogen.
    Vinjinia, die Einzige in der Reihe der Würdenträger, die wusste, warum alles so geendet hatte, staunte innerlich über den neuerlichen Beweis für die Kräfte des Herrn der Krähen. Er hatte erreicht, was Rechtsanwälten, Journalisten und all ihren Freunden nicht gelungen war: Die Regierung zu zwingen zuzugeben, dass sie Tajirika in ihrer Gewalt hatten. Wer aber waren diese Tänzerinnen? Sie hatte sie noch nie gesehen. Konnte es sein, dass sich der Herr der Krähen in mehrere weibliche Inkarnationen verwandelt hatte?
    Jedenfalls wussten weder Kaniũrũ noch Sikiokuu und auch Vinjinia nicht, dass Nyawĩra die Frauen bei Gesang und Tanz angeführt hatte.

16
    Als Nyawĩra Kamĩtĩ alles berichtet hatte, was während der Zeit seines Aufenthalts in Kĩambugi im Schrein vorgefallen war, schüttelte er ungläubig den Kopf und murmelte missbilligend: „Das war gefährlich und verantwortungslos.“
    Sie saßen im Chou Chinese Gourmet, ihrem Lieblingslokal, das sich auf wunderbar angenehme Weise sowohl von den Restaurants der Oberklasse als auch den Spelunken abhob, zumal beide Extreme oft das Revier darstellten, in dem der Geheimdienst wilderte.
    „Du bist derjenige, der mal zu mir gesagt hat, das beste Versteck ist immer dort, wo man am wenigsten vermutet wird.“
    „Ja, aber du hast dich absichtlich in große Gefahr begeben. Auge in Auge mit John Kaniũrũ, jemandem, der dich so gut kennt? Und das nicht nur einmal, sondern gleich zweimal!“
    Der Kellner brachte die Rechnung und zwei Glückskekse. Nyawĩra bezahlte und nahm einen Keks. Kamĩtĩ nahm den anderen. Fast gleichzeitig brachen sie sie auf und zogen das kleine Papier heraus, auf dem Prophezeiungen zu lesen sind.
    „Was steht bei dir drauf?“, wollte Kamĩtĩ wissen.
    „Nein, sag du erst, was bei dir draufsteht.“
    Sie stichelten eine Weile, wer den Anfang machen sollte, dann schnappten sie das Zettelchen des jeweils anderen und lasen. Der Text war identisch: „Sei auf Überraschungen gefasst!“ Sie lachten.
    „In Ordnung. Erzähl mir bitte den Rest von Vinjinias Geschichte, überrasch mich. Vielleicht sind das die Überraschungen, die die Glückskekse vorhersagen.“
    „Schau nicht so verschreckt“, sagte Nyawĩra und versuchte, Kamĩtĩ zu besänftigen. „Kaniũrũ konnte mich nicht erkennen. Das erste Mal bin ich ihm in der Abenddämmerung begegnet. Ich hatte einen kanga um den Kopf und einen Nasenring. Beim zweiten Mal trug ich ein traditionelles Gewand und befand mich in einer Frauengruppe, die genauso gekleidet war. Ich habe mich gefühlt, als wäre ich wieder im College. Wenn ich dort auf der Bühne im Scheinwerferlicht stand und eine Rolle spielte, konnte ich jeden in die Irre führen. Sogar meine engsten Freundinnen.“
    „Mich könntest du nicht in die Irre führen!“, stellte Kamĩtĩ fest.
    „Sei dir da nicht so sicher“, gab Nyawĩra zurück und entschuldigte sich, um auf die Toilette zu gehen.
    Als er allein war, dachte Kamĩtĩ über alles nach, worüber sie gesprochen hatten. Er war glücklich, dass sie wieder zusammen waren. Die Leichtigkeit ihres Gesprächs trug dazu bei, sich von der Last zu befreien, die er verspürte, seit er vom Tod Margaret Wariaras und dem Unheil erfahren hatte, das das fremde Virus über das Dorf seiner

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