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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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reagierte mit heftigem, kaum kontrollierbarem Zittern, und es gelang dem Herrn der Krähen nur unter großen Schwierigkeiten zu verhindern, dass er Sikiokuu ins Gesicht sprang.
    „Warum zittert der denn so? Habe ich etwas gesagt, das ihn aufregt?“, fragte ein eingeschüchterter Sikiokuu.
    „Mr. Minister, Sie müssen in Ihr Herz sehen. Sind Sie sich wirklich sicher, dass man niemals angeklagt und verurteilt werden kann, wenn man Fragen stellt? Nicht einmal in Aburĩria?“
    Sikiokuu dachte über die Frage nach. Dieser Zauberer und sein Spiegel fingen an, ihn zu beunruhigen.
    „Nun, ab und zu sperren wir tatsächlich Leute dafür ein, dass sie Fragen stellen, aber nur die, die anerkannte Wahrheiten hinterfragen oder das herrschende Recht unterlaufen oder in Zweifel ziehen, wie dieses Land regiert wird.“
    Der Spiegel beruhigte sich allmählich. „Der Spiegel zittert nicht mehr“, sprach der Herr der Krähen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie meinen Fragen sehr aufmerksam lauschen sollen. Und Sie müssen die Wahrheit sagen, Sie haben selbst erlebt, dass mit dem Spiegel nicht zu spaßen ist. Gehört dieser Spiegel Ihnen?“
    „Ja.“
    „Sind Sie der Einzige, der ihn benutzt?“
    „Warum?“
    „Was habe ich Ihnen gesagt? Ein Spiegel ist ein gewöhnliches Ding, und dennoch ein besonderes Werkzeug. Er fängt unsere Schatten ein. Schatten, die in den Spiegel eintreten, verschwinden nicht. Es bleiben Spuren, Reflektionen von uns, unseren Herzen, die Wirkung dessen, was wir uns antun. Das einzige Problem ist, dass sich Schatten ineinanderschieben und damit verhindern können, einzeln deutlich erkennbar zu werden. Das kann auch bei diesem Spiegel der Fall sein, wenn andere ihn benutzt haben. Außerdem könnten einige Schatten auftauchen, Mr. Minister, von denen Sie nicht wollen, dass andere sie sehen. Deshalb frage ich Sie, hat außer Ihnen noch jemand diesen Spiegel benutzt? Wenn es Ihnen jedoch nichts ausmacht, dass auch ich diese Gesichter sehe, so ist es auch mir recht. Ich bin sehr diskret.“
    Sikiokuu dachte an die Gesichter der Frauen, vor allem der Ehefrauen anderer, die er in seinem Schlafzimmer geliebt hatte. Eine von ihnen gehörte, wie sich herausstellte, zu denen, die regelmäßig dem Herrscher das Bett bereiteten. Der Herrscher wachte sehr über die Frauen, die mit ihm das Bett teilten, und sollte nicht erfahren müssen, dass jemand anderes sie vorher oder nachher berührte. Wie viele Ehemänner hatte er ins Ausland getrieben, ihnen Arbeit an weit entfernten Orten verschafft, nur damit er ungehinderten Zugang zu ihren Frauen hatte? Einer, ein namhafter Geschäftsmann, hatte seinen Kopf eingebüßt, weil er sich mit einer Frau, die bekanntermaßen eine der bevorzugten Bettgespielinnen des Herrschers war, getroffen und damit angegeben hatte. Sikiokuu sprang unvermittelt auf, um sich den Spiegel zu greifen.
    „Ich hole Ihnen einen anderen“, sagte er.
    Erneut eilte Sikiokuu in ein anderes Zimmer, suchte nach einem Spiegel, den nur er benutzt hatte, und brachte ihn zum Herrn der Krähen.
    „Und Sie sind jetzt absolut sicher, dass nur Sie diesen Spiegel benutzt haben?“
    „Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber versuchen wir es trotzdem.“
    „Sie wissen um die Spuren Ihres Schattens in diesem Spiegel?“
    „Wo soll ich denn einen Spiegel herbekommen, den ich bislang noch nicht benutzt habe? Wahrsagen Sie mit diesem, ich trage die Konsequenzen.“
    „Ihnen ist bewusst, wenn Sie lügen oder die Fragen nicht ehrlich beantworten, kommen Sie der Suche nach dem Objekt möglicherweise in die Quere?“
    „Ich werde alle Ihre Fragen beantworten, aber vergessen Sie nicht, ich bin nicht hier, um einen Lügendetektortest zu machen. Und falls ich Sie daran erinnern darf, Sie sind hier, weil Sie Nyawĩra finden sollen, nicht mich.“
    „Ich wollte Ihnen nur klarmachen, wie der Spiegel funktioniert, damit Sie eine bewusste Entscheidung treffen können, ob wir mit der Suche weitermachen sollen oder nicht. Es liegt allein bei Ihnen.“
    „Machen wir weiter“, antwortete Sikiokuu etwas ungeduldig.
    „Knien Sie nieder, schließen Sie die Augen, falten Sie die Hände wie zum Gebet, wie ein Bittsteller vor einem imaginierten Schrein. Konzentrieren Sie sich auf Nyawĩras Bild in Ihrem Kopf. Sie dürfen sich auf keinen Fall von diesem Bild ablenken oder Gedanken an ein anderes Bild dazwischenkommen lassen.“
    Sikiokuu versuchte, der Forderung zu folgen, doch seine Gedanken

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