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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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wanderten unentwegt von einem Gegenstand zum nächsten. Er war froh, seine Leutnants gebeten zu haben, im Vorzimmer zu bleiben. Was aber würden sie sagen, wenn sie hereinkämen und sähen, wie er bei abgedunkeltem Licht vor einem Hexenmeister kniete? Er sprang auf und eilte zu den Türen der anderen Zimmer, um sie abzuschließen. Er hängte sogar das Telefon aus, damit keine Anrufe, auch nicht vom Herrscher, die Sitzung störten. Dann nahm er wieder die Haltung des Bittstellers ein. Aber auch jetzt wollte sich kein klares Bild der Frau vor seinem geistigen Auge formen, ihm kamen nur undeutliche, einander überlagernde Umrisse, doch er versuchte es weiter. Ab und zu blickte er verstohlen zum Herrn der Krähen hinüber und fühlte sich durch das, was er sah, etwas wohler, weil der Zauberer seinen Blick unverwandt auf den Spiegel richtete. Jetzt durchbrach die Stimme des Herrn der Krähen die Stille im Zimmer, als würde sie auf etwas reagieren, das im Spiegel auftauchte. Sikiokuu hätte es selbst gern gesehen, aber er traute sich nicht, eingeschüchtert von der Feierlichkeit der Szene.
    „Hier, ein Schatten taucht auf. Dort. Er bleibt stehen. Er geht. Er geht weiter. Jetzt ist er weg; ah, da ist er wieder. Es ist der Umriss einer Frau, nicht sehr deutlich, aber, oh, ja, es ist eine Frau. Eine junge Frau. Sie rennt wie eine Antilope in der Wildnis. Ihr Schatten wird eins mit dem Gehölz. Da, sie überquert einen Fluss. Sie verschwindet in einem Loch, wie in ,Alice im Wunderland‘. Dunkelheit. Licht. Sie kommt aus dem Loch. Ich sehe sie wieder in der Wildnis – nein, nein, sie ist unter Menschen. Sie verschwindet in der Menge …“
    „Halten Sie sie auf! Bitte halten Sie sie auf!“, schrie Sikiokuu. „Oder folgen Sie ihr! Folgen Sie ihr und finden Sie heraus, wohin sie geht oder wen sie treffen wird oder mit wem sie redet, aber verlieren Sie sie nicht aus dem Blick …“
    „Schscht. Ein zweiter Schatten ist aufgetaucht. Er überlagert das Geschehen. Er ist riesig, aber verschwommen. Gut. Jetzt ist er wieder deutlich zu sehen. Es ist der Schatten eines Mannes, der Macht und Selbstvertrauen besitzt. Er sieht aus wie ein Minister, ein Regierungsmitglied. Er trägt Kleidung, die aussieht wie … Ich will hier aufhören. Ich möchte nicht mehr sehen“, sprach der Herr der Krähen und wandte den Blick vom Spiegel.
    „Warum schauen Sie nicht mehr in den Spiegel?“, fragte Sikiokuu, der ebenfalls die Augen wieder öffnete.
    „Sind Sie sicher, dass ich weitermachen soll?“
    „Was haben Sie gesehen? Wessen Schatten war es? War es Machokali? Ist er der Frau gefolgt? Haben Sie miteinander geredet, sich begrüßt, sich angesehen? Sagen Sie es mir. Sagen Sie mir alles, was Sie gerade gesehen haben …“
    „Es war Ihr Schatten.“
    „Lassen Sie meinen Schatten da raus“, erwiderte Sikiokuu enttäuscht. „Konzentrieren Sie sich wieder auf den Spiegel und sehen Sie zu, ob Sie den Schatten der Frau zurückholen können. Strengen Sie sich an. Konzentrieren Sie sich auf sie.“
    Doch wie oft er es auch versuchte oder wie sehr er sich anstrengte, der Herr der Krähen berichtete wieder dieselbe Szene: Immer erschien der Schatten einer Frau, die durch die Wildnis rannte, einen Fluss überquerte, um dann in einer Menschenmenge zu verschwinden, genau in dem Moment, in dem Sikiokuus Schatten die Menge zu verdecken begann.
    „Wow! Ihr Schatten ist sehr mächtig …“, sprach der Zauberer, als machte er Sikiokuu ein Kompliment.
    „Mächtig? Sagten Sie mächtig?“, fragte Sikiokuu, dessen Interesse an seinem eigenen Schatten plötzlich geweckt war.
    „Ja. Es sieht so aus, als ob alle anderen Schatten ihn fürchten.“
    „Fürchten? Vergessen Sie Nyawĩra mal kurz und finden Sie mehr über meinen Schatten heraus. Wie sieht er aus? Was hat er an?“
    „Er ist Ihr genaues Ebenbild. Gekleidet ist er wie der Herrscher … und er hat sogar einen ähnlichen Gang …“
    „Warten Sie. Halt. Suchen Sie nach, nein, nein, lassen Sie mich nachdenken … ich muss das erst durchdenken …“, sagte Sikiokuu panisch.
    Er zitterte am ganzen Leib. Was bedeutete das? War Seiner Allmächtigkeit etwas zugestoßen … Oder war das lediglich ein Vorbote der Zukunft? War es sein Schicksal, Sikiokuus Schicksal, der Nachfolger …?
    Er wollte es unbedingt wissen. Aber wie sollte er den Herrn der Krähen auffordern, sich diesen besonderen Aspekt seiner Zukunft näher anzusehen, ohne sich durch das Aussprechen dessen, was in seinem Kopf vor sich

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