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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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ging, zu kompromittieren? Er schloss die Augen und versuchte, sich eine andere Zukunft vorzustellen, doch so sehr er sich auch mühte, seine Gedanken wanderten immer wieder zu diesem Bild von sich selbst in einem Anzug, der dem Seiner Allmächtigen Vortrefflichkeit glich. Derselbe Gang? Er sah sich gehen, das Militär abschreiten, das stramm und salutierend vor ihm stand … Der Herr der Krähen hatte gesagt, der Spiegel könnte einfangen, was … Plötzlich kam alles zum Stillstand. Hatte dieser Spiegel etwa eine seiner geheimsten Machtphantasien eingefangen?
    In jenen Tagen, als der Herrscher in Amerika weilte, hatte sich Sikiokuu immer wieder in seinem Büro oder Appartement eingeschlossen, sich exakt so wie der Herrscher gekleidet und sich auf einen erhöhten Stuhl gesetzt, der dem Seiner Allmächtigen Vortrefflichkeit ähnelte. Aber da nur er über dieses Rollenspiel Bescheid wusste, wie war es dem Herrn der Krähen gelungen, es zu enthüllen?
    Selbst seinem skeptischen und zynischen Verstand war dies die Bestätigung, dass der Herr der Krähen übernatürliche Kräfte besaß. Sein Wunsch, das Schicksal seines Schattens zu erfahren, wuchs sich zu einem unwiderstehlichen Hunger nach weiteren Zeichen aus. Doch seine Gedanken in Worte fassen, das konnte und wollte er nicht. Plötzlich brach es aus ihm heraus: „Wenn.“ Jedes Mal, wenn er etwas sagen wollte, konnte er nur murmeln: „Wenn.“ Bald darauf bellte er eine Serie von „Wenns“ heraus. Der Herr der Krähen schaute ihn erstaunt an. Sikiokuu fiel zu Boden und begann herumzukriechen. Seine Ohren hingen auf beiden Seiten herunter, Gesicht und Augen waren hinauf zum Herrn der Krähen gerichtet, als würde er Hilfe suchen. Der Herr der Krähen gab ihm den Spiegel und befahl ihm, sich selbst genau anzuschauen und seine Gedanken auf ein einziges Anliegen zu konzentrieren.
    „Hören Sie, ich kann Ihnen helfen, Ihre Gedanken mit Worten auszudrücken. Doch dazu müssen Sie, ich wiederhole das, meine Fragen wahrheitsgemäß beantworten. Andernfalls wird der Spiegel Ihre Lügen einfach entlarven.“
    „Wenn, wenn, wenn“, bellte Sikiokuu, als wollte er „ja, ja, ja“ sagen, und nickte heftig.
    „Geben Sie mir den Spiegel zurück. Wir fangen an. Träumen Sie manchmal davon, auf dem Stuhl zu sitzen, der durch den Herrscher belegt ist?“, fragte er in den Spiegel schauend und warf ab und zu einen kurzen Blick auf das Gesicht des Ministers.
    Sikiokuu hörte sehr genau, was er gefragt wurde, aber es fiel ihm schwer zu antworten. Schließlich nickte er.
    „Nein, sprechen Sie es aus“, beharrte der Herr der Krähen. „Träumen Sie manchmal davon, das höchste Amt im Land einzunehmen?“
    „Ja, das tue ich“, presste er hinter zusammengebissenen Zähnen hervor.
    Und damit geriet Sikiokuu in Fahrt und begann zu reden; wie ein reißender Fluss strömten ihm die Worte aus dem Mund.
    „Es gibt keinen Minister, der nicht davon träumt, eines Tages der Herrscher zu werden. Wir alle sind begierig nach Macht, und welche Macht ist größer als die eines obersten Herrschers? Du hebst deinen Fliegenwedel oder einen Stab, und Männer knien vor dir nieder. Du niest, und du bringst eine riesige Menge zum Schweigen. Du hast den Schlüssel zu allem Reichtum im Land. Ein Wort, nur ein einziges Wort, und dir stehen die Türen der Central Bank offen. Und wenn die nationale Schatztruhe leer ist? Kein Problem. Ein Wort von dir, und es werden Tausende Banknoten gedruckt. Oh, stellen Sie sich nur mal vor: Wenn du sagst ‚Putzt euch die Nasen‘, dann werden Millionen Taschentücher an Millionen Nasen geführt. Du sagst zu deinen Ministern ‚Setzt mal ein Komma‘, und sie machen es. ‚Macht einen Punkt‘, und sie machen es, ohne zu fragen. Können Sie sich vorstellen, wie geehrt sich Ihre Minister und die ehrgeizigen Parlamentsmitglieder fühlen, wenn man Interesse an ihren Frauen bekundet, und ganz aus dem Häuschen geraten, wenn man mit ihnen im Bett war? Macht. Ich träume jede Stunde an jedem Tag von dieser Macht, ob ich wach bin oder schlafe. Und warum auch nicht? Tatsache ist, dass ich heute de facto das Staatsoberhaupt bin, die Macht hinter dem Thron sozusagen, und sollte der Herrscher heute krank werden und sterben …“
    Bevor er den Gedanken zu Ende geführt hatte, erschrak er. Es war Hochverrat, den Tod des Herrschers zu erwähnen, sich vorzustellen, zu träumen, zu denken oder darüber zu sprechen. Darauf stand die Todesstrafe. Sein Gesicht verzerrte sich bei dem

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