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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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und ging am nächsten Morgen früh ins Büro, da er wichtige Neuigkeiten über den Ankunftstermin des Herrschers erwartete. Eine Zeit lang hatte er nicht besonders erfreut auf die Heimkehr der Delegation geblickt, weil sich für ihn damit Machokalis Triumph verband. Aber jetzt, da er Tajirikas Geständnis in der Tasche hatte und der Zauberer unweigerlich zur Hölle fahren würde, war er ganz ruhig. Er freute sich sogar darauf. Es war kein Fax eingegangen, deshalb schaltete er den Computer ein. Bevor er seine E-Mails ansehen konnte, klingelte das Telefon.
    Es war Tajirika. Warum rief er so zeitig an? War das ein gutes Zeichen? Während sie sich begrüßten und über den Grund des frühen Anrufs sprachen, öffnete Sikiokuu eine E-Mail und begann still zu lesen. „Was? Was soll das heißen?“, fragte er laut und legte auf. Es war ihm völlig entfallen, dass Tajirika am anderen Ende sprach. Die Nachricht war erschreckend deutlich. Alle Vorbereitungen zum Empfang des Herrschers seien unverzüglich einzustellen. Dem Herrscher gehe es nicht gut.
    Der Absender war Machokali. Sikiokuu wurde schlecht. Lag der Herrscher im Sterben? Was, wenn der Herrscher Machokali bereits zu seinem rechtmäßigen Nachfolger bestimmt hatte? Dieser Gedanke war zu schrecklich, und Sikiokuu begann zu planen, wie er selbst die Macht übernehmen könnte.
    Vielleicht aber sollte er zunächst einmal die vollständige Nachricht lesen, um herauszufinden, was eventuell zwischen den Zeilen stand. Er war sprachlos. Denn im Mittelteil der E-Mail entdeckte er den Namen „Herr der Krähen“. Er konnte nicht glauben, was seine Augen da lasen.
    Sikiokuu sollte nach dem Herrn der Krähen schicken, ihm einen Diplomatenpass ausstellen, bei der Beschaffung eines Visums helfen und ihn in das nächste Flugzeug nach New York setzen.
    Er fühlte sich wie gelähmt. Seine Leutnants Kahiga und Njoya hatten ihn vorgewarnt: Unvorstellbare Schwierigkeiten. Er dachte an seinen Entschluss, lehnte sich in seinen Stuhl zurück, starrte an die Decke und zupfte nachdenklich an seinen Ohrläppchen.

D   R   I   T   T   E   R   T   E   I   L
1
    Wieder zu Hause, benahm sich Tajirika wie jemand, der von einer Krankheit geheilt ist, nur um Opfer einer anderen, noch schlimmeren zu werden. Er spürte das unwiderstehliche Verlangen, seine Frau zu verprügeln. Jede Nacht träumte er davon, wachte am Morgen mit dem Gedanken daran auf und brachte den ganzen Tag damit zu, jede Kleinigkeit zu einem Streit aufzubauschen, der Schläge provozieren würde. Aber nichts in Vinjinias Worten und Handlungen rechtfertigte eine Tracht Prügel.
    Tajirika stellte überrascht fest, dass Vinjinia die Geschäfte während seiner Abwesenheit effizient geführt hatte. Sie hatte gute Ergebnisse erzielt. Eigentlich war das Unternehmen unter ihrer Verantwortung sogar gewachsen und neue Kunden und Aufträge waren hinzugekommen. Insgesamt hatte sie gearbeitet, als wäre sie schon ihr ganzes Leben lang Geschäftsfrau gewesen. Doch statt Tajirika glücklich zu machen, verstärkte ihr fehlerfreies Verhalten nur den Verdacht, den er ihr gegenüber hegte. Wo war diese neue Vinjinia vorher gewesen? Um sie bei einer Lüge zu ertappen, versuchte er es mit Fangfragen, aber sie beantwortete sie alle klar und einfach.
    „Okay, du kannst jetzt wieder deinen Platz in der Küche einnehmen“, sagte er ohne ein Wort des Dankes.
    Sie hatte auch das Haus gut in Ordnung gehalten. Und in ihren Berichten über ihre sozialen Beziehungen sah er keinerlei Ungereimtheiten. Mit seinem verbleibenden Misstrauen kam Tajirika zu der Überzeugung, dass alles gespielt war; Vinjinias vermeintliche Kompetenz und ihre eheliche Rechtschaffenheit waren nichts als Heuchelei. War das nicht genau das Bild, das sie ihm schon vor seiner Entführung immer geboten hatte? Das Gesicht eines Menschen, der nicht zu viele Fragen stellt? Der Anschein loyalen Schweigens? Aber eine Frau, die, während sie ihm das eheliche Idealbild präsentierte, gleichzeitig Zeit und Energie fand, sich mit schamlosen Tänzerinnen einzulassen? Und in all den Jahren des ehelichen Glücks und der Fortpflanzung hatte sie diese nicht ein einziges Mal erwähnt. Wenn überhaupt, dann hatte sie nur ihre Verachtung gegenüber Traditionen und rituellen Aufführungen zum Ausdruck gebracht. Wie hatte sie diese Frauen überhaupt so gut kennengelernt, um sich mit ihnen in aller Öffentlichkeit fotografieren zu lassen? Wann hatte sie sich ihnen angeschlossen? Wo und wann hatte sie

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