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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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verschaffte ihr Zeit nachzudenken. Kamĩtĩ und sie stimmten nicht immer überein, vor allem nicht, wenn es um Fragen der Ideologie und um praktische Politik ging. Kamĩtĩs Misstrauen gegenüber Organisationen und der Disziplin, die sie verlangten, standen im Gegensatz zu deren Überzeugung, das Volk könne nur dann bedeutende Veränderungen herbeiführen, wenn es sich organisierte. Weniger selbstquälerisches Leid, mehr organisierter Zusammenhalt! Doch trotz der Tatsache, dass sie einer Organisation angehörte und Kamĩtĩ nicht, einte sie der gemeinsame Glaube an die Menschlichkeit und den Dienst an der Gemeinschaft. Sie unterschieden sich nur in der Antwort auf die Frage, wie dies erreicht werden sollte. Doch letztlich vereinte sie ein festes Band.
    Sie vermisste ihn und ihre Gespräche sehr. In solchen Momenten suchte sie oft Zuflucht im Gitarrenspiel, aber es gelang ihr nicht einmal, die Saiten anzuschlagen. Was konnte sie noch tun? Vor langer Zeit, in der Schule und noch während des Studiums, hatte Nyawĩra unregelmäßig Tagebuch geführt. Jetzt nahm sie es wieder auf. Beim Schreiben fühlte sie sich besser, denn ihr war, als würde sie sich mit ihrer fernen Liebe unterhalten. Eines Nachts versuchte sie zu begründen, was sie als ihren politischen Katechismus bezeichnete.
    „Ich glaube, Schwarz wird von Weiß unterdrückt; weiblich von männlich; Bauer von Grundbesitzer; und Arbeiter vom Gott des Kapitals. Daraus folgt, dass die schwarzen Arbeiterinnen und Bäuerinnen am meisten unterdrückt werden. Wie alle Schwarzen auf der Welt werden sie wegen ihrer Hautfarbe unterdrückt; sie werden wegen ihres Geschlechts unterdrückt wie alle Frauen auf der Welt; und sie werden auf Grund ihrer Klassenzugehörigkeit ausgebeutet und unterdrückt wie alle Arbeiter und Bauern dieser Welt. Sie haben die dreifache Last zu tragen. Wer für das Volk kämpfen will, daheim und weltweit, muss für die Einigkeit und die Rechte der Arbeiterklasse in seinem eigenen Land kämpfen; gegen alle Diskriminierungen auftreten, die auf Rasse, ethnischer Zugehörigkeit, Hautfarbe und Glaubensrichtung beruhen; muss gegen alle geschlechterbedingten Ungleichheiten kämpfen und daher für die Rechte der Frauen zu Hause, in der Familie, in der Nation und in der Welt …“
    Nein, das waren nicht die Worte, die ihr für ihren Katechismus vorschwebten. Für wen schreibe ich das überhaupt auf?, fragte sie sich und zerriss alles.
    Je mehr sie Kamĩtĩ vermisste und um seine Sicherheit fürchtete, desto mehr stürzte sie sich in ihre organisatorischen Aufgaben und das Heilen. Die Einbindung in das Leid anderer stellte sich als der beste Weg heraus, mit persönlichen Problemen zurechtzukommen, weil ihr klar wurde, dass viele Probleme nicht nur sie, sondern auch viele andere betrafen.
    Eines Morgens kam eine Frau in den Schrein. Sie trug einen Schleier. Eine Muslima, dachte Nyawĩra, als sie sie in dem Raum empfing, den sie Beichtstuhl nannten. Sie versuchte, im Gesicht der Frau zu lesen, aber wie soll man in einem Gesicht lesen, das hinter einem Schleier verborgen ist? Trotzdem konnte sie sehen, dass die Frau voller Traurigkeit war.
    „Mutter, was führt dich in den Schrein des Herrn der Krähen?“, fragte Nyawĩra.
    Als sie zu antworten versuchte, brach die Frau zusammen und schluchzte. Tränen rannen ihr über die Wangen. Nyawĩra wartete geduldig und ließ ihr Zeit, die Fassung wiederzugewinnen. Dann nahm die Frau das Tuch ab, das den Kopf und ihr Gesicht verhüllte. Vinjinia? Nyawĩra vergaß beinahe ihre Tarnung als Herr der Krähen und konnte sich gerade noch zurückhalten, den Namen auszurufen. Das Gesicht war derart geschwollen, dass die Augen fast völlig geschlossen waren. Schockiert verlangte Nyawĩra gar nicht erst den Grund des Besuches zu erfahren. Sie bemühte sich nicht um eine leichte Unterhaltung, und ebenso wenig erinnerte sie sie an ihren letzten Besuch im Schrein, als sie Hilfe bei der Suche nach ihrem verschwundenen Mann erbat. Sie wollte es Vinjinia überlassen, wie viel sie preisgeben mochte. Nyawĩra kannte Besucher des Schreins, die immer wieder kamen und jedes Mal so taten, als wären sie zum ersten Mal da. Aber Vinjinia schien zu sehr in ihrem Kummer gefangen, um überhaupt sprechen zu können.
    „Was ist los, Frau? Hat dich eine Bestie angefallen, oder was?“, fragte Nyawĩra schließlich, um das lange Schweigen zu brechen.
    „Die Bestie hat einen Namen. Sie heißt Ehemann. Nacht und Tag. Streit ohne Grund. Kämpfe

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