Herr der Krähen
erste Lager ist, auch wenn man seine Verbündeten im Ausland einrechnet, klein, und doch kann es über das zweite herrschen, weil es ihm gelingt, dieses durch ethnische Ausgrenzung und manchmal nach religiöser und Geschlechterzugehörigkeit zu spalten. Unsere Bewegung möchte das umkehren. Wir fragen die Menschen nicht nach dem Volk, zu dem sie gehören, sondern nach ihrer Haltung zu den gegensätzlichen Interessen der beiden Lager. Für die ethnische Zugehörigkeit kann man nichts, man wird hineingeboren, aber man kann souverän entscheiden, mit wem man sich einlässt. Biologie ist Schicksal. Politik ist Wahl. Nein, das Leben selbst des Geringsten unter uns ist heilig, und es darf keine Region oder Gemeinschaft geben, die schweigt, wenn Menschen einer anderen Region oder Gemeinschaft abgeschlachtet werden. Die Errungenschaften von Wissenschaft, Technologie und Kunst sollen das Leben der Menschen bereichern und nicht ihre Abschlachtung ermöglichen. Wir sind dagegen, den Frauen die Last des Althergebrachten aufzubürden, für das es ein Umfeld gab, auf dem es einst nötig und vielleicht sogar nützlich war. Das Umfeld ist weg, aber die Praxis bleibt“, sagte sie.
„Was ich eigentlich wissen will, ist, wie kann man einer von euch werden?“
„Frag oder werde gefragt. Du bist einmal gebeten worden. Dein Schweigen wurde so ausgelegt, dass du nicht bereit warst oder nicht wolltest. Wir zwingen niemanden mit Tricks, Schwüren, Gewalt oder Bestechung in die Bewegung. Jetzt musst du darum bitten, dich uns anschließen zu dürfen.“
„Ich verstehe. Weißt du, obwohl ich die innere Wirkungsweise eurer Bewegung nicht kenne, weder ihre Führer noch ihr Programm, habe ich die Ergebnisse ihrer Arbeit gesehen. Wie die Bewegung dem spontanen Schlangenbilden Zweck und Richtung gegeben hat, bewies mir ihren Mut und ihre Entschlossenheit. Die meisten Politiker wollen das Volk beherrschen. Eure Leute wollen jedoch zuerst sich selbst beherrschen, bevor sie über andere herrschen. Ich möchte mit euch zusammenarbeiten. Ich frage jetzt: Kann ich mich den anderen anschließen?“, sagte Kamĩtĩ entschlossen.
„Ich werde deine Bitte unserem Komitee vortragen.“
„Und da ich jetzt geheilt bin: Was machen wir nun?“, fragte er.
„Wir gehen zurück nach Eldares“, antwortete sie. „Das Volk ist unser bester Schutz.“
„Stimmt, und da der Staat uns bereits zwei Mal für tot erklärt hat“, fügte Kamĩtĩ nachdenklich hinzu, „werden sie nicht nach uns suchen. Und wenn sie uns zufällig sehen, werden sie glauben, wir seien Geister, und davonrennen.“
„Oder uns auf der Stelle umbringen und vergraben“, erwiderte Nyawĩra düster. „Wir müssen trotzdem zurück. Wir dürfen das Schicksal der Nation nicht den Menschenfressern überlassen.“
S E C H S T E S B U C H
Bärtige
Dämonen
1
Eine Woche nach ihrer Rückkehr besuchte Nyawĩra Maritha und Mariko. Sie trauerten um ihre Katze, die von den Soldaten Christi gekreuzigt worden war.
„Was hat die Katze mit Religion zu tun?“, fragte Kamĩtĩ gequält.
Kamĩtĩ und Nyawĩra hatten eine Wohnung in einem heruntergekommenen, stark bevölkerten Teil Santalucias gemietet. Ihr Kräutergeschäft wieder zu eröffnen, kam nicht in Frage – sie würden andere Wege finden müssen, um zu überleben.
Nyawĩra erzählte, was Maritha und Mariko ihr berichtet hatten: Die Soldaten Christi wollten Satan den Schmerz spüren lassen, den Christus gefühlt hatte.
„Diese Sekten machen ihre Anhänger zu Narren. Sogenannte Erwachsene, die eine Katze umbringen?“
„Tatsächlich ist sie nicht gestorben“, erzählte Nyawĩra. „Als die Soldaten drei Tage später zurückkamen, waren die Nägel noch da, aber die Katze nicht mehr. Maritha und Mariko sagten mir, dass die Katze irgendwie überlebt hatte und sich wieder in ihrer Obhut befand. Die Soldaten hatten offensichtlich erkannt, dass die Katze, die sie gekreuzigt hatten, dieselbe war, die Maritha und Mariko folgte, wohin die auch gingen. Doch anstatt sich zu entschuldigen, marschierten sie geradewegs zur All Saints Cathedral und beschuldigten das Paar öffentlich, Diener Satans zu sein, und erklärten, dass selbst der Sieg, den das Paar einst verkündet habe, kein Sieg, sondern eine Niederlage gewesen sei und sie Gott angelogen hätten. Sie verlangten, Bischof Tireless Kanogori solle Mariko und Maritha verstoßen, weil sie mit Satan gemeinsame Sache machten. Als der Bischof das ablehnte, warfen
Weitere Kostenlose Bücher