Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
Vom Netzwerk:
Heiligen meinen diese Begebenheit, die am selben Tag geschah, an dem wir beide uns bei Tajirika begegnet sind.“
    „Und stimmt das wirklich? Du hast deinen Körper verlassen?“
    „Ja, und das war nicht das letzte Mal. Manchmal, wenn ich allein bin, bin ich regelrecht außer mir – ich meine, außerhalb meines Körpers –, und ich schwebe als Vogel am Himmel. Genau das ist damals geschehen. Ich habe dir das nie erzählt –, weil ich Angst hatte, du könntest mich für verrückt halten.“
    Er erzählte kurz von seinem Flug über Afrika, die Karibik und Südamerika zurück nach Manhattan, New York.
    „Der größte Teil dessen, was ich auf der Volksversammlung den Leuten zu sagen versucht habe, war Bestandteil dessen, was sich in mir während meiner Weltreise auf der Suche nach der Quelle schwarzer Kraft geformt hat.“
    Sie schwiegen. Nyawĩra überlegte, wie sie das Ganze nehmen sollte, und Kamĩtĩ dachte daran, wie sie es aufnahm.
    „Und die Quelle? Hast du sie gefunden?“
    „Ja, in der Einigkeit unseres Schwarzseins.“
    „Einigkeit zwischen uns, dem Herrscher und Tajirika? Sie sind schwarz, wir sind alle Schwarze.“
    „Lass diesen Sarkasmus. Man kann nicht in allem und jedem Klassen und Klassenkämpfe sehen. Auch die Zugehörigkeit zu einer Rasse spielt eine Rolle.“
    „Ich wollte nicht sarkastisch klingen“, beeilte sich Nyawĩra zu sagen. „Ich will nicht abstreiten, dass das Schwarzsein eine Rolle spielt, wenn es darum geht, im Streben nach Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit und einem erfüllten Leben für alle ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu erreichen über Nationen, Staatsgebiete und Kontinente hinweg. Die Berufung auf das Schwarzsein wird nur zu oft benutzt, um die Kluft zwischen gegensätzlichen Positionen zu verdecken. Sogar die extremen schwarzen Rechten mit ihren gegen die arbeitende Bevölkerung gerichteten Programmen wollen jetzt auf den Opferzug aufspringen. Wie du während der Versammlung so deutlich gesagt hast, direkt aus unserer Mitte erheben sich die, die Uneinigkeit säen, sie sind die Saat unserer Niederlage.“
    „Ja, ich habe sie gesehen, sie sind halb Mensch, halb Tier …“, sagte Kamĩtĩ.
    „Du meinst das metaphorisch?“, fragte Nyawĩra.
    „Es gab sie wirklich“, antwortete Kamĩtĩ nachdrücklich. „Was ich in meiner Vogelgestalt gesehen habe, war real.“
    Nyawĩra konnte die Erzählungen über seinen Vogelflug nicht glauben und unterbrach ihn. „Als mir Maritha und Mariko erzählten, dass die Soldaten Christi an einen Teufel glauben, der von einer Katze Besitz ergriffen hat, war mir zum Lachen zumute, aber ich verkniff es mir. Weißt du, warum? Die Soldaten Christi erinnern mich an meine Urgroßmutter mütterlicherseits. Sie gehörte zur ersten oder zweiten Generation derer, die vor dem flüchteten, was für sie Barbarei war, und Zuflucht in den neuen christlichen Missionszentren suchte; zugleich floh sie vor einer Ehe, zu der sie gezwungen worden war. Kannst du dir vorstellen, dass meine Urgroßmutter bis zu dem Tag, an dem sie mit über neunzig Jahren starb, an die physische Realität von Teufeln und Engeln glaubte, die über die Erde wandelten? Auch Gott war real, und sie beschrieb ihn als alten Mann mit weißem Bart und langem, silbrigem Haar, das bis zu den Füßen reichte. Das war ihre Erklärung, dass niemand das Geschlecht oder die Hautfarbe Gottes bestimmen konnte. Aber was soll ich glauben, wenn der, den ich liebe, dessen Urteil und Einsichten ich traue, mir erzählt, dass er ein Vogel gewesen ist und das auch selbst zu glauben scheint? Wenn mich die Soldaten Christi an meine Urgroßmutter erinnern, dann erinnerst du mich an Gacirũ und Gacĩgua – du weißt schon, Vinjinias Kinder. Als Tajirika den Weiß-Wahn hatte und Vinjinia erstmals in ihrem Leben zur Arbeit ins Büro kam, brachte sie ihre Kinder mit, und ich habe ihnen Geschichten erzählt. Sie mochten die marimũ -Geschichten über die zweimäuligen Ungeheuer, denen das eine Maul am Hinterkopf sitzt und das andere vorn …“
    „Genau das ist es“, unterbrach Kamĩtĩ sie. „Du hast es beim Namen genannt. Ungeheuer.“
    Nyawĩra war über seine Reaktion erschrocken und starrte ihn an, weil sie erneut überrascht war, wie ernst er das zu nehmen schien. Kamĩtĩ bemerkte ihren Zweifel.
    „Nyawĩra, verlang keine Erklärung von mir, sondern tu mir einen Gefallen“, sagte er und versuchte, sie zu überzeugen, dass er ganz klar im Kopf war. „Geh morgen zu Maritha und Mariko und

Weitere Kostenlose Bücher