Herr der Krähen
er hatte recht. Ihre Augen sagten alles, auch als sie ihren Zweifel zum Ausdruck brachte.
„Du meinst, du warst dort, um wirklich zu betteln?“, fragte sie.
„Klar, du doch auch, oder?“, antwortete Kamĩtĩ verblüfft.
„Du meinst, du bist nicht einer von uns?“
„Wie meinst du das? Einer von euch? Was wolltest du in deinen Bettlerlumpen vor dem Paradise?“
„Nichts. Rein gar nichts. Wir protestieren gegen den Geburtstagskuchen des Herrschers und die Global-Bank-Delegation, weil die uns in eine Schuldenfalle treiben, aus der wir nie wieder herauskommen. Wir alle müssen uns Marching to Heaven entgegenstellen.“
„Indem wir so tun, als wären wir arme Bettler?“ In Kamĩtĩs Stimme lag etwas Bitterkeit. „Wo ist der Zusammenhang zwischen Politik machen und Lumpen tragen? Du glaubst, betteln ist nur Theater?“
„Ein Theater der Politik“, antwortete sie scharf. „Das Wasser, das ich trinke, das Essen, das ich zu mir nehme, die Kleider, die ich trage, das Bett, in dem ich schlafe, all das wird von Politik beherrscht, guter wie schlechter. In der Politik geht es um Macht und wie sie eingesetzt wird. Politik heißt auch, sich im Kampf um die Macht für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Also, auf wessen Seite stehst du?“
„Muss man sich immer für eine Seite entscheiden? Ich glaube an die Menschlichkeit, die göttlich und unteilbar ist. Jeder soll tief in sein Herz schauen, und die Menschlichkeit wird sich in all ihrem Glanz zeigen. Und dann werden die Gier und der Antrieb, andere zu erniedrigen, verschwinden.“
„Und diese glorreiche Menschlichkeit, über die du dich so poetisch auslässt, warum kehrt sie sich gegen sich selbst? Etwa wegen der Erbsünde?“
„Hör zu. Ich bin kein Priester. Ich bin kein Politiker. Die Widerwärtigkeit dieser Welt übersteigt meine Kräfte.“
„Und warum hast du dich ausgerechnet vor dem Tor des Paradise aufgebaut? Es gibt doch genügend andere Sieben-Sterne-Hotels in Eldares.“
Er antwortete nicht sofort. Bilder der Ereignisse des Tages schossen ihm durch den Kopf. Sollte er ihr alles erzählen? Einer völlig Fremden? Nein, nicht alles.
„Ich habe mir das nicht ausgesucht“, erklärte er jetzt. „Ich bin einfach dort gelandet. Ich war blind vor Hunger und Wut. Ich bin dahin gegangen, wo es mich hingeführt hat. Alles, was im Leben geschieht, ist Schicksal. Das Schicksal fällt wie der Regen vom Himmel, und wie der Regen fällt es nicht auf alle in gleichem Maße. Glück kommt, wie das Unglück auch, von Gott.“
Nyawĩra unterbrach ihn und stimmte eine Hymne an:
Im christlichen Himmel werden wir uns wiedersehen
Wir werden uns wiedersehen im christlichen Himmel
Sie lachte leise. Kamĩtĩ sah sie an: Diese Frau war wie ein Chamäleon. Einmal war sie eine zuverlässige Sekretärin, dann redete sie über den Zusammenhang von Politik und Armut, und gleich darauf spielte sie die singende religiöse Fanatikerin.
„Bist du religiös?“, fragte sie ihn.
„Warum?“
„Weil du gesagt hast, das Gute wie das Schlechte kommt vom Himmel auf uns herab, ohne dass wir es beeinflussen können. Bist du in Indien zu einer Religion übergetreten, die daran glaubt, dass die Armen arm und die Reichen reich auf die Welt kommen? Dass ihr Schicksal vorherbestimmt ist? Wenn dem so wäre, was brächte es, ins eigene Herz zu blicken, um die Menschlichkeit in all ihrer Pracht zu erfahren? Was, wenn das, was man sieht, verdorben ist? Was, wenn das Verdorbene vom Schicksal vorherbestimmt ist?“
„Das weiß ich nicht“, meinte Kamĩtĩ ausweichend.
„Was heißt das, du weißt es nicht?“ Nyawĩra blieb hartnäckig. „Wie kannst du religiös sein und es nicht wissen? Oder nicht wissen, welcher Religion du dich angeschlossen hast?“
„Weil … weil … ich weiß nicht. Manchmal fühle ich mich von unbeantwortbaren Fragen vollkommen überfordert. Wer hat das Universum erschaffen? Das Leben in den Körpern von denen, die sterben, was wird daraus? Oder ist das Leben nur eine Illusion? ,Maya‘, wie der Inder Shankara lehrt. Manchmal nachts, wenn ich allein draußen in der Wildnis auf dem Rücken liege und zu den Sternen und dem unermesslichen Universum aufsehe, habe ich das Gefühl, als ob mich etwas aus mir heraushebt … ich meine, ich höre, wie mir Stimmen sagen, Kamĩtĩ, warum machst du dir solche Sorgen? Siehst du, wie grenzenlos das Universum ist? Was bist du angesichts seiner Ewigkeit und Unendlichkeit? Nein, ich würde nicht sagen, dass ich
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