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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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Kaniũrũ entpuppen. Außerdem schien er ihr ein Einzelgänger, der sich nur von seinen Gefühlen leiten ließ.
    „Heutzutage kann sich eine Frau nicht mehr gefahrlos allein auf die Straße trauen. Ich habe die Schlange bei mir, um mich aus gefährlichen Situationen zu befreien.“
    „Nein“, sagte er, „du verheimlichst mir etwas, Nyawĩra.“
    „Willst du es wirklich wissen?“, fragte sie etwas leidenschaftlicher.
    Kamĩtĩ war unentschlossen: Einerseits wollte er es wissen, andererseits auch wieder nicht. Er fühlte sich nicht in der Lage, die Last des Wissens auf sich zu nehmen und dann die Qual der Wahl zu haben. War eine gewisse Unbestimmtheit nicht besser?
    Nyawĩra sah das Zögern in seinem Gesicht und dachte: Er hat Angst. Sie sah auf die Uhr.
    „Es wird fast schon hell. Du musst nicht mehr in die Wildnis hinaus. Du kannst auf der Couch schlafen. Ich hol dir eine Decke.“
    Als sie sich auf den Weg in Richtung Schlafzimmer machte, blieb Kamĩtĩ trotz seiner Ängste hartnäckig.
    „Du hast meine Frage noch nicht richtig beantwortet.“
    Nyawĩra blieb stehen und schaute zurück.
    „Kennst du die Bewegung für die Stimme des Volkes?“
    Kamĩtĩ sah sich instinktiv um, bevor er antwortete.
    „Nein, aber du hast sie schon mal erwähnt. Hat der Herrscher sie nicht für illegal erklärt?“
    „Ja“, antwortete sie – unsicher, was sie von seiner Nervosität halten sollte.
    „Und worum geht es nun?“, fragte Kamĩtĩ nicht gerade begeistert.
    „Es gibt zwei Arten von Erlösern: Diejenigen, die die Seelen der Leidenden besänftigen wollen, und diejenigen, die die Wunden im Fleisch der Leidenden heilen wollen. Manchmal frage ich mich, was richtiger ist. Schlaf gut. Die Couch ist vielleicht nicht so bequem wie dein Lager aus Gras, aber sie hat wenigstens ein Dach.“
    „Aber wofür steht diese Bewegung? Wer sind ihre Mitglieder? Wer die Anführer?“
    „Irgendwann erzähle ich dir mehr“, wich sie aus und fragte sich nach der Ursache für sein plötzliches Interesse an Einzelheiten. Sie ging ins Schlafzimmer und warf ihm eine Decke zu.
    Die Gitarre an der Wand war durch ihr Liebesspiel verrutscht. Sie rückte sie zurecht. Dann schlüpfte sie ins Bett.
    Kamĩtĩ seufzte erleichtert. Erleichtert von was? Er konnte nicht einschlafen; er ging in Gedanken noch einmal die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden durch. Es ist wie in einem Traum, dachte er und gähnte erschöpft, ich weiß nicht, wohin es geht.
    Draußen klopfte es an der Tür. Kamĩtĩ war eingeschlafen und mit tausend regenbogenfarbenen Stricken an sein Bett aus Träumen gefesselt. Wer wollte ihn in seinem Blumengarten wecken? Oh, ja, das Paradies. Ein Millionen-Sterne-Hotel mit einem grenzenlosen Himmel als Dach. Oh ja, dachte er, ein Sternenhagel muss die Pforten des Paradieses küssen. Wie wohltuend. Das Klopfen an der Tür hörte nicht auf, und Kamĩtĩ erwachte.
    Auf Zehenspitzen schlich er zu Nyawĩras Bett und weckte sie. Sie lauschten und hofften, das anhaltende Klopfen würde aufhören. Doch es ging weiter. Nyawĩra legte ein Tuch um und ging zur Tür.
    Zögernd öffnete sie.
    „Haben Sie keine Angst, Mutter“, sagte der Mann. Dann holte er hastig etwas aus der Tasche und hielt es ihr hin. „Ich will Sie nicht ausrauben. Ich bin nur ein Kriminalpolizist in Zivil.“
    „Was wollen Sie?“, fragte Nyawĩra mürrisch und bemühte sich, ihre Panik zu verbergen.
    „Ich bitte Sie, seien Sie mir nicht böse. Ich bin der Polizist, der letzte Nacht schon hier war. Na, nicht genau hier – ich will sagen, ich war gestern Abend in Santalucia, und im Vorbeigehen sah ich etwas an der Hauswand hängen. Und als ich nach Hause ging, nun ja, da habe ich darüber nachgedacht. Ehrlich, Haki ya Mungu . Ich kann Ihnen sagen, ich habe kaum ein Auge zugetan, weil ich versucht habe herauszufinden, wie alles zusammenhängt. Und so kam ich zu dem Schluss, dass vielleicht … und dann der Zweifel, wie soll ich das Haus wiederfinden? Ich habe meinen ganzen Mut zusammengenommen und bin vor dem Hellwerden hierhergekommen, und Sie können sich bestimmt meine Erleichterung vorstellen, als ich das Ding noch immer hängen sah. Und da habe ich mir gesagt, hier bist du richtig.“
    Verdrossen erinnerte sich Nyawĩra an das falsche Zauberbündel draußen am Dach. Wie unvorsichtig von ihnen, es nicht abgenommen zu haben! Der Zauber, der den Polizisten verjagt hatte, hatte ihn zum Haus zurückgebracht, auch wenn er jetzt unbewaffnet zu sein schien.

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